Spätestens seit der Entstehung von Rock'n'Roll in den 50ern präsentieren sich die
Geschichte der Popmusiken und die Geschichte der populären Jugendkulturen als ineinander
verschränkte Phänomene. Das Verhältnis von Jugendkulturen und Popmusiken kann daher als
reziprok bezeichnet werden.
Segmentarisierung und selbsternannte Minderheiten
In der aktuellen Situation fällt es dabei schwer, eine zentrale und dominante
Popmusik auszumachen. Tom Holert und Mark Terkessidis konstatieren, daß sich seit Beginn
der 90er in der Popmusik ein Prozeß der Segmentarisierung vollzieht, als dessen Ergebnis
momentan mehrere vorliegende Popmusiken von verschiedenen Jugendkulturen als Bezugsrahmen
verwendet werden. (ANM: Vgl. Tom Holert/Mark Terkessidis, Einführung in den Mainstream
der Minderheiten) Die drei wichtigsten Varianten sind derzeit Alternative Rock, Hiphop und
die Techno- und Rave-Musik.
Abgeleitet von Gilles Deleuze's Überlegungen zum Übergang von den Disziplinar- zu den
Kontrollgesellschaften, ergibt sich dieses uneinheitliche Dispositiv. Deleuze notiert die
allgemeine Krise der Institutionen und Einschließungsmilieus, gleichbedeutend mit dem
"fortschreitenden und gestreuten Aufbau einer neuen Herrschaftsform".(ANM:
Gilles Deleuze, Postskrpitum zu den Kontrollgesellschaften, S. 262) Die
Segmentarisierungsthese kann also auch also Tendenz zur Pluralisierung aktueller
Popmusiken verstanden werden.
Neben der Segmentarisierung sehen Holert/Terkessidis ein zweites Ergebnis dieser
Entwicklung in der inzwischen gängigen Selbstinszenierung populärer Jugendkulturen als
Minderheiten.
Mit der Selbst-Konstruktion einer Minderheit ist auch stets der Entwurf und die
Konstruktion eines sich formierenden und dadurch emanzipierenden Subjekts verbunden. Neben
dem konstruierten Kollektiv-Subjekt der Minderheit als ganzer, implizieren derartige
Strategien gleichfalls die, oftmals suggestiv bleibende, Konstruktion eines individuellen
Subjekt-Entwurfs; mit anderen Worten eine Stilfigur eines Individuums aus dieser
Minderheit. Unter diesem Aspekt betrachtet, stellt die Segmentarisierung der mit
Jugendkulturen verknüpften Popmusiken auch eine Vervielfältigung der in Popmusik
konstruierten und enthaltenen individuellen Subjektentwürfe dar.
Subjektentwürfe in Rock und Hiphop
In den Diskursen über Popmusik und Jugendkulturen wird seit dem massiven Auftauchen
der Hiphop-Kultur in der zweiten Hälfte der 80er Jahre die Pop- und vor allem
Rock-Geschichte als diesbezüglich von der Stilfigur des jungen, weißen Mannes mit der
Gitarre dominierte diskutiert. Wenn man so will, fungiert diese Stilfigur als
vorherrschender unbewußter und suggestiver Entwurf individueller Subjektivität innerhalb
des Referenzrahmens Rockmusik und der ihm assoziierten Jugendkulturen.
Heute kann davon ausgegangen werden, daß diese Figur im aus der Independent-Musik der
80er hervorgegeangenen Alternative-Rock eine neue Heimat gefunden hat. An ihre Seite ist
via Hiphop der sich organisierende, Sprechpositionen in der Gesellschaft reklamierende und
sich durch diese Praxen zu einer formal vergleichbaren Stilfigur entwickelnde junge
schwarze Mann getreten. Darüber hinaus können weitere Variationen des Konzepts angegeben
werden: Die Riot Grrls beispielsweise als Versuch, Rock- und Punkmusik vom
Frauenstandpunkt aus zu codieren (ANM: Vgl. Tom Holert/Mark Terkessidis, Einführung in
den Mainstream der Minderheiten, S. 8) oder aber auch die partielle Verwobenheit von
House-Musik und gay culture. In jedem Fall scheint es so, daß die derzeit gängigen
Formationsregeln musikalisch geprägter Jugendkulturen bevorzugt über die Konstruktion
eines identitären Subjekt-Entwurfs funktionieren.
Das Paradigma der Identität in den Diskursen über Popmusik
Im Zuge der skizzierten Entwicklung spezifizierte sich der Focus der Diskurse über
Popmusik in den letzten Jahren zunehmend auf die Frage nach assoziierten
Subjektivierungsmustern und den in den sozialen und künstlerischen Kontexten der Musik
enthaltenen Subjekt-Stilfiguren. Zu einem zentralen Bestandteil dieser Diskurse wurde so
das Thema der mit Popmusiken vermittelten und konstruierten Identitätsentwürfe.
Als historische Ursachen hierfür können zwei Aspekte angeführt werden: einerseits
fällt die skizzierte Entwicklung von Hiphop zu einer relevanten Popmusik und -kultur,
insbesondere unter dem Aspekt der durch Hiphop und die in dessen Rahmen getroffenen
Aussagen forcierten Auseinandersetzung über Subjektfiguren in der Musik, ins Gewicht.
Andererseits können die spätestens seit Beginn der 90er Jahre in den Blick der
Öffentlichkeit gerückten zahlreichen und insgesamt heterogenen neo-nationalistischen
Tendenzen in aller Welt, jedoch insbesondere in der bundesrepublikanischen Gesellschaft
angeführt werden. In diesem Kontext tauchten nun auch verstärkt jugend- und
subkulturelle Organisationsformen auf und mit Nazirock wurde eine originäre Popmusik
dieses Neo-Nationalismus entdeckt. (ANM: Vgl. zu diesem Thema ausführlich den von Max
Annas und Ralph Christoph herausgegebenen Sammelband "Neue Soundtracks für den
Volksempfänger", Edition ID-Archiv, Berlin 1993)
Die beiden Pole Hiphop und die Neo-Nationalismen der 90er Jahre führten so zu einer
tendenziellen Politisierung der Diskurse über Popmusik in den letzten Jahren, innerhalb
derer die Kategorie der Identität eine zentrale Rolle als Reflexions- und
Beschreibungsfigur einnimmt.
Exemplarisch kann dafür der bekannte Popjournalist Diedrich Diederichsen genommen werden,
der in seinem seit 1992 mehrfach überarbeitet erschienenen Aufsatz "The Kids are not
alright" (ANM: Erschienen in: a) "Spex" 11-92, S. __; b) "Max
Annas/Ralph Christoph (Hrsg.), Neue Soundtracks für dern Volksempfänger, S. 11-28; c)
Diedrich Diederichsen, Freiheit macht arm, S. 253-283) das Identitätsthema an die
zentrale Stelle der Analyse von Popmusik und ihr assoziierter Jugendkulturen gerückt hat.
Diederichsen analysiert dort die rassistischen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen im
Sommer 1992, bei denen er via TV feststellt, daß einer der rassistischen Aggressoren eine
aus dem Hiphop bekannte Baseball-Mütze mit dem Malcolm X-Zeichen trägt.
Diederichsen bestimmt die begriffliche Ausgangslage des neuen, sich aus Elementen von
Popmusik, Jugendkultur und Politik zuammensetzenden Dispositivs anhand Hiphop wie folgt:
"Rasse wie Jugend - werden sowohl als Zuschreibung, Entmündigung und Zwang
eingesetzt, als auch, um im Moment des mit einem Fuß in der Tür Stehens, Forderungen zu
formulieren, beide leisten das, was Identitäten leisten können: Sie sind wie
Baseballschläger und werden in der Regel von der Macht benutzt". (ANM: Diedrich
Diederichsen, The Kids are not alright, S. 264)
Die Kategorie der Identität wird also vor allem als politische oder zumindest sich
politisch auswirkende Identität verwendet.
Deren Kriterien und Attribute leiten sich daher gleichfalls aus dem Spektrum des
Politischen oder besser formuliert des politisch Codierten ab. Als allgemeines
Orientierungsmuster, innerhalb dessen sich die Erörterung von Identität in der Regel
formiert, können Diskurse um die drei Schlagworte Rasse, Klasse, Geschlecht gegeben
werden, zu denen noch der Begriff der nationalen Identität hinzukommt, der zweifellos
seit Beginn der 90er Jahre Hochkonjunktur hat.
"Identität betrachte ich als Waffe" (ANM: Diedrich Diederichsen, The kids are
not alright, S. 265), definiert daher Diederichsen und "wer ohne primäre Not
Identität verlangt, stiftet oder verehrt, ist ein Faschist." (ANM: ebd. 268)
Die Identitätskategorie wird hier also als politische Organisationform individueller oder
kollektiver Subjekte verstanden. Häufig werden Pop- und Jugendkulturen daraufhin als
"Nations, Tribes and Families" (ANM: Anette Weber, Miniaturstaat Rave-Nation, S.
46) beschrieben oder inszenieren sich gleich selbst als solche. (ANM: Man vergleiche den
Begriff der "black nation", der im Hiphop eine große Rolle spielt.) Derart
gefasst resultieren aus den identitären Beschreibungsweisen Bewertungskriterien für
Popmusiken und sich auf sie beziehender Jugendkulturen.