3.3.1. Patrick Walder/Philip Anz (Hrsg.)
         "Techno" (ANM: Erschienen im Verlag Rocco Bilger, Zürich 1995)

"Es mußte ja kommen, daß Techno irgendwann zu reden anfängt."
(Philip Anz/Patrick Walder, Vorwort zu Techno, S. 7)

Im Jahre 1995 erschien bei dem Schweizer Verlag Rocco Bilger das Buch "Techno". Auch wenn der Titel zunächst etwas großspurig wirkte, setzte es doch Maßstäbe bezüglich des Sprechens über und aus Techno heraus. Entscheidend war, daß die fast dreissig Autoren sämtlich sprachliche Ausdrucksweisen fanden, welche die Vorgabe der Herausgeber, "Wir berichten nicht von außen über ein Phänomen Techno, sondern mitten aus dem Gewühl heraus: über die Musik, die Szene, über die Kultur - über uns" (ANM: Philip Anz/Patrick Walder, Vorwort zu Techno, S. 7) umsetzten. Die Perspektive des Sprechens/Schreibens ist damit bereits als eine stets verwickelte gekennzeichnet. Man spricht als Verwickelter von einem Thema, in das man verwickelt ist.

Das Buch beginnt mit dem bezeichnenden Satz: "Es musste ja kommen, daß Techno irgendwann zu reden anfängt." (ANM: Philip Anz/Patrick Walder, Vorwort zu Techno, S. 7) und besteht nicht aus einem zusammenhängenden und gegliederten Text, sondern aus vielen kleinen Essays, von denen sich jeder einem dem Kontext Techno entnommenen Thema widmet. Die Spannbreite reicht von Porträts einzelner Musiker bis zur Eröterung des Verhältnises von Techno und Politik. Anders als in vielen anderen Kompilationsbänden nehmen die einzelnen Texte kaum Bezug aufeinander. Man kann zum Beispiel nicht formulieren, daß die Beiträge sich auf eine präexistente Debatte beziehen oder selbst etwas einer Debatte vergleichbares darstellen oder gar ausgelöst haben. Es finden sich keinerlei ausgetragene Kontroversen und niemand antwortet auf einen Anderen. Der Fundus an verwendeten Begrifflichkeiten ist extrem weitläufig und verstreut. Diskursive Grundmodelle wie den Widerstreit und das kritische Streitgespräch, die Kategorie des Widerspruchs und die Schreibtechnik des Kommentierens bereits bestehender Texte sucht man hier vergebens. Man kann es ein wenig mit der Schreibweise von Gilles Deleuze und Felix Guattari in ihren "Mille Plateaux" vergleichen. Nicht ein zentraler Text, der sich langsam aufbaut und vorgibt, sein Thema erschöpfend abzuhandeln, sondern viele diskursive Plateaus, auf denen geschrieben und gearbeitet wird, Erkenntnisse gesammelt und sortiert werden.

Die thematische Auswahl kann fast mit einer Vermessung bislang unbekannten Territoriums verglichen werden. Wichtig ist dabei nur, daß das Buch nicht eine, kohärente und flächendeckende Karte produziert, sondern viele kleine Mikro-Karten, die sich sämtlich auf relativ eng eingegrenzte thematische Terrains beschränken. Die versammelten Texte sind dabei anhand vier unterschiedlicher paradigmatischer Herangehensweisen ans Thema gruppiert:

Die versammelten Texte sind also in mehrerlei Hinsicht gestreut. Einerseits hinsichtlich der AutorInnen, zum zweiten hinsichtlich der differentiellen und klar umrissenen Grenzen des jeweils verhandelten Themas, zum dritten aufgrund der skizzierten vier paradigmatischen Organisationsweisen der Diskurse sowie schließlich viertens im Sinne der verwendeten Sprechweisen und Aussagestile.

Letzterer Punkt bedarf noch einer gewissen Erläuterung, wozu kurz auf zwei der Texte eingegangen werden soll, die jeweils einen bestimmten Techno-Musiker vorstellen.
So orientiert sich beispielsweise der von Philip Anz verfasste Essay zu "Cosmic Baby" relativ stark an gängigen Mustern des Schreibens über Musiker, die aus traditionellem Popmusikjournalismus und Feuilleton bekannt sind. Anz entwickelt den Text weitgehend anhand der Beschreibung der Künstlerbiographie.

"Mit drei Jahren entdeckt der 1966 geborene Cosmic Baby das Klavier. Mit sieben wird er ans Nürnberger Konservatorium geholt, mit elf absolviert er sein erstes Solokonzert. Die Karriere als klassischer Konzertpianist scheint programmiert, würde nicht die elektronische Musik sein musikalisches Weltbild erschüttern. Cosmic Teen entdeckt Kraftwerk ... wünscht sich einen Synthesizer zu Weihnachten und bekommt ihn auch. ... Der zweite Einschnitt erfolgt im Herbst 1988. Cosmic, der inzwischen in Berlin Komposition und Tontechnik studiert, erlebt seine erste Acid-House-Party. ... Wer Cosmic einmal live gesehen hat, weiß, was ihm ein Auftritt bedeutet. Er schwitzt und schreit, ist ständig in Kontakt mit dem Publikum und steigt auch mal aufs Keyboard. ... Cosmic durchlebt eine depressive Phase und wird immer öfter krank. Mitte 1993 zieht er die Notbremse. ... Diese schwierige Phase schlägt sich im Album "Thinking about myself" nieder, das im Frühjahr 1994 erscheint und im Gegensatz zu "Stellar Supreme" von Melancholie geprägt ist." (Philip Anz, Cosmic Baby, S. 35ff)

Die Art und Weise, wie Anz den Musiker beschreibt, weist den Text in keinster Weise als techno-spezifisch aus. Er gruppiert den Text um biographische Erlebnisse und Krisen des vorzustellenden Musikers. Die Künstlerpersönlichkeit und deren Geschichte funktioniert als organisierendes Raster des Textes, der damit durchaus einem gängigen und traditionellen Diskurstyp zugeordnet werden kann. Es handelt sich um einen relativ orthodoxen Versuch, in der Tradition der am Prinzip des Autors orientierten Musikkritik, die sich ihrerseits mit Mustern der Literaturkritik vergleichen lässt, zu schreiben. Die Geschichte des Musikers wird derart erzählt, daß sie zwar Brüche und Wendepunkte beinhaltet, aber nichtsdestotrotz einen kohärenten und kontinuierlichen Sinnzusammenhang darstellt. Die Brüche beschreibt Anz im Sinne des fast klassischen Motivs vom sich ausdrückenden Subjekt. Sie wirken demgemäß kreativitätsstiftend. Anz' Herangehensweise postuliert, von Cosmic Baby's Musik auf dessen Biographie und Persönlichkeit schließen zu können. Im Umkehrschluß werden aus der Rekonstruktion der Geschichte des Künstler-Subjekts Rückschlüsse und kausale Ableitungen zu deren Musik gezogen.


Ganz anders individualisiert Sascha Kösch in seinem Text zu "Mike Ink" diesen als Person:

"Mike Ink ist die wandelnde Sinnkrise. ... Diverse Projekte mit dem befreundeten Jörg Burger schlichen so dahin, bis eines Abends, 1988, nachts im Rave-Club die Erleuchtung in Form von "Rise from your Grave" kam. TB or not TB, das war jetzt die Frage. Wo waren eigentlich diese so klar möglichen Frequenzen und Strukturen die ganze Zeit über gewesen? Der Weltaufstand hatte eine neue Dimension: maschinelle Funkyness. Die Zerbröselung und Wiederauferstehung der Welt im Sampler. ... In der Kölner Szene kursieren diverse Gerüchte über die Lage seines abgeschnittenen Ohres (neben dem von van Gogh), den Acid-Künstler als Emulation von Bruce Springsteen (oder andersherum) oder seinen Flirt mit der Enkelin von Mussolini. Wahr ist vielmehr, daß er gut dichten kann. Leseprobe: >Guten Abend allerseits we are not the creators but we are back this is the sound of staubiges Wasser niemand spritzt ab es lebe der neue Planet Verantwortungslosendisko ...< ... Ihr versteht, warum die hierarchische Struktur des wohlerzogenen Textes dem Phänomen Mike Ink nicht eben nahe kommen kann." (Sascha Köch, Mike Ink, S. 47ff)

Auch Kösch beschreibt ein, den Anz'schen Brüchen vergleichbares biographisches Ereignis, das der vorzustellende Künstler erlebte, eben jene Nacht im Rave-Club. Doch während in Anz' Text das Künstlersubjekt in jedem Moment auch strukturierendes Subjekt des Texts bleibt, also alle beschriebenen Ereignisse sofort auf dieses Subjekt zurückgebunden und im kontinuierlichen Erzählstrang von dessen Geschichte eingeordnet werden, übernimmt bei Kösch sofort die konzeptionelle Idee, welche der vorzustellende Künstler quasi dem Ereignis verdankt, die den Text strukturierende Rolle.

Wo Anz die Folgewirkungen des Ereignisses der Krise des Künstlers notiert - "Diese schwierige Phase schlägt sich im Album "Thinking about myself" nieder, das ... von Melancholie geprägt ist" -, entwirft Kösch als Konsequenz des Ereignisses jener Nacht im Rave-Club das hier entstandene künstlerische Konzept - "Wo waren eigentlich diese so klar möglichen Frequenzen und Strukturen die ganze Zeit über gewesen? Der Weltaufstand hatte eine neue Dimension: maschinelle Funkyness. Die Zerbröselung und Wiederauferstehung der Welt im Sampler."
Wo zuvor die Situation des Musikers vor jenem Ereignis geschildert wurde, übernimmt nun dessen durch das Ereignis entstandene musikalische Konzeption die den Diskurs strukturierende Funktion.
Der Essay wechselt so gewissermassen die Perspektive und wirkt im Vergleich wesentlich diskontinuierlicher, sprunghafter, vermittelt einen zerstückelten und fragmentarisierten Eindruck.

Zusammengefasst ergibt sich also zunächst, daß im Buch "Techno" Texte versammelt sind, die unterschiedlichen Diskurstypen zugeordnet werden k"nnen. Mit Michel Foucault können die beiden untersuchten Texte diesbezüglich folgendermaßen unterschieden werden: für den eine kontinuierliche Geschichte erzählenden Essay von Philip Anz ist die Kategorie des Subjekts zentral. Wie Foucault formuliert: "Aus der historischen Analyse den Diskurs des Kontinuierlichen zu machen und aus dem menschlichen Bewuátsein das ursprüngliche Subjekt allen Werdens und jeder Anwendung machen, das sind die Gesichter ein und desselben Denksystems." (ANM: Michel Foucault, Archäologie des Wissens, S. 23)

Demgegenüber geht Sascha Kösch eher so vor, daß in seinem Text der Kategorie des Ereignisses diese zentrale paradigmatische Stellung zugewiesen werden kann. In Köschs Text "sind an Stelle der kontinuierlichen Chronologie der Vernunft, (...) voneinander verschiedene, einem einheitlichen Gesetz sich widersetzende Abstufungen erschienen, (...) die auf das allgemeine Modell eines Bewußtseins sich nicht zurückführen lassen, das erwirbt, fortschreitet und sich erinnert". (ANM: Michel Foucault, Archäologie des Wissens, S, 17)

Im Vorwort nehmen die Herausgeber selbst Abstand von dem Vorhaben, das Phänomen Techno in seiner umfassenden Totalität abzuhandeln. "So unmöglich es heute ist, mit Techno eine bestimmte Musik zu identifizieren, (...) so unmöglich ist es auch, von einer Techno-Szene zu reden." (ANM: Philip Anz/Patrick Walder, Vorwort zu Techno, S. 7) Vor dem Hintergrund einer derart diagnostizierten Kulturform erscheint das Konzept der vielen verstreuten Texte, die von ebensovielen Stimmen vorgetragen werden und sich häufig widersprechen, nicht nur schlüssig, sondern fast notwendige Konsequenz.

Im Buch "Techno" stellen sich die angedeuteten Legitimationsprobleme des Schreibens aufgrund dieser Organisationsweise nur in begrenztem Rahmen. Walder/Anz können sich des Problems mittels der gewählten Streuung der zu Wort kommenden Autor-Stimmen vergleichsweise leicht entledigen und es bei einem lapidaren "Motiviert hat uns die Lust, über Techno nachzudenken" (ANM: Philip Anz/Patrick Walder, Vorwort zu Techno, S. 7) bewenden lassen.