Auf eine noch einmal andere Weise stellt sich das Problem Techno und Schriftkultur für
Rainald Goetz. Goetz schreibt Romane, Erzählungen und Theaterstücke - seine Texte
können also zunächst als primär literarische klassifiziert werden. Ihre
Herangehensweise kann schon aus diesem Grund nur sehr mittelbar mit den an Poschardt
explizierten Legitimationsproblemen wissenschaftlichen Sprechens verglichen werden.
Dennoch stellen sich auch für ihn Probleme, wie er vom Komplex Techno sprechen kann und
er entwickelt gewisse, dem Gegenstand Techno-Kultur abgeleitete Kriterien, die er an sein
Sprechen stellt.
In seinem 1989 erschienenen Aufsatz "Drei Tage" beschreibt Goetz quasi sein
Coming Out als Techno-Begeisterter und schildert, wie er zum ersten Mal Ecstasy genommen
hat. Der Text erschien kurz nach seinem Erstabdruck in SPEX in einem Buch des
Suhrkamp-Verlags (ANM: Rainald Goetz, Kronos), also an einem der - wenn man so will -
klassischsten Orte der Hochkultur. Bereits dieser Hinweis mag die außergewöhnliche und
fast paradoxale Situation seines Schreibens andeuten.
Biographisch fällt die Begeisterung für die Techno-Kultur mit allgemeineren
Veränderungen in seinem Denken zusammen. Im gleichen Aufsatz notiert er: "Mit dem
Selbstmord geht es mir wie mit dem Heroin: die Sicherheit der inkongruenten Perspektive
ist mir irgendwie abhanden gekommen. Woher soll ich wissen, was im einsamen Seelenleben
des Joggers, des Fixers, oder von Frau Beate Pinkerneil vorgeht, wenn sie Rudolf Augstein
interviewt? Es wird jedem schon irgendwie angenehm sein, was er tut, wenn er es tut. Es
ist einfach nicht plausibel, daß fast jeder von fast jedem anderem zu wissen glaubt, der
wüßte nicht, was er tut, und würde eigentlich viel lieber etwas anderes tun, was er
auch tun sollte. Aber vielleicht ergreift vielmehr jeder in jeder Situation die
augenblicklich für ihn beste aller ihm gegebenen Möglichkeiten." (ANM: Rainald
Goetz, Drei Tage, S. 266)
Goetz koppelt nun diese radikal individualistische Ethik, deren oberste Maxime die
unanfechtbare Autonomie individuell getroffener Entscheidungen zu sein scheint, an seinen
Entwurf von Alltagsdiskursivität in der Techno-Kultur.
Hierzu bestimmt er Techno-Musik zunächst als den nochmaligen völligen Neubeginn, der
zudem "im Bereich der Sprache gearbeitet hat" und dort zu einem "puren
Parlament der vielen Stimmen eines kollektiven Glücks"(ANM: Rainald Goetz, Die
Ordnung der Ekstase, S. 18) geführt hat. Eine der Konsequenzen, die Goetz hieraus zieht,
ist der Schluß auf ein Phänomen, das sich je nach Sichtweise als plumper
Anti-Intellektualismus oder eine Demokratisierung der Diskurse, hinsichtlich der
Dysfunktionalität der privilegierten Wirkungsweise intellektuell codierter Aussagen in
jenen, fassen lässt. Er beschreibt genüßlich, wie diverse linksintellektuelle
Musikjournalisten von Rolli, dem Türsteher einer Techno-Disco abgewiesen werden, denn:
"Die nach eigenem Selbstverständnis Klugen und Sensiblen waren Rolli schlicht und
einfach ein bißchen zu schlicht und stumpf, zu dumm. Sie konnten nicht feiern, wußten
nicht was das ist: Exzeß. Saufen, Sex, Gewalt."(ANM: Rainald Goetz, Rave, S. 72)
Intellektualität und das Verwenden intellektueller sprachlicher Codes garantieren daher -
im wahrsten Sinne des Wortes - keinen erleichterten Zugang zur Techno-Kultur.
Deren Diskurse müssen daher einer anderen Ordnung unterstehen: Die Rolle von
Intellektualität, ihre allgemeine Definitionsmacht bezüglich der Sprache, die allgemeine
Codierung, daß ihre Aussagen und Sichtweisen ein privilegiertes Verhältnis zur Wahrheit,
also einen stärkeren Anspruch auf jene besitzen, ist für Goetz hier völlig suspendiert.
Denn "eines stimmte sicher nicht: daß Worte die einzig denkbare und reale Form von
Intelligenz wären, und die Wortemacher die automatisch intelligenten. Durchaus eher im
Gegenteil."(ANM: Rainald Goetz, Rave, S. 260)
Doch existieren in Goetz' Texten Indizen dafür, daß er einen anders gelagerten,
vielleicht noch grundsätzlicheren Dualismus sozusagen als strenge Arbeitshypothese
benutzt. Er expliziert ganz konkret: "Sprache: no. Yes: Ein konkretes
Leben."(ANM: Rainald Goetz, Rave, S. 263) Zugespitzter kann es, vor allem in Bezug
auf die Ausgangsthese der zwangsläufig eintretenden Probleme des Sprechens über Techno,
kaum formuliert werden.
Hieraus kann beispielsweise seine Abneigung gegen analytisch-reflexive Sprechweisen zum
Thema abgeleitet werden. Goetz setzt die soziale Funktion analytisch-reflexiver Sprache
determinierend als bloße Technik der Negation an. Derart über etwas zu sprechen, heißt
für ihn, Nein dazu zu sagen. Im Einband seiner Erzählung Rave formuliert er die
Bedingungen, unter denen sich sein Schreiben vom Gegenstand Rave (oder auch in anderen
Worten: der Techno-Kultur) erst formieren konnte: "Schließlich war das Ding kaputt
genug. Ich konnte darüber schreiben. Die Szene: verdunkelte Räume, Hotelzimmer, kleine
Grüppchen. Vereinzelte, die eingefroren vor dem weißen Pulver sitzen. Starr und
hektisch: die Dealer, das Denken, der Triumph der Negativität."(ANM: Rainald Goetz,
Rave, Einband)
Der Begriff der Negativität ist dabei ein philosophischer und kein moralischer oder
qualitativ wertender. Negativität hat, so gefasst, nichts damit zu tun, etwas schlecht zu
finden, es also zu nicht zu mögen, sondern meint die Art und Weise, wie sich das
Schreiben oder Denken auf den Gegenstand bezieht. Auf die Frage, "ob Techno für ihn
ein Ausdruck von positivem Denken ist" (Diefenbach), antwortet er daher: "Nicht
von positivem Denken im Sinne von gut, ... sondern Positivität im Sinne von
Nicht-Negativität. Sprachliche und gedankliche Bewegungsformen sind automatisch
abstoßend. Der Denkvorgang geht immer über eine Negation. Deshalb ist es so schwierig,
in der schriftlichen Sprache direkte Zugriffe auf Dinge zu bekommen. Mit diesem Problem
plagen sich alle herum, die auch schöne Momente schriftlich schildern wollen. Es ist
entweder verlogen, kitschig oder schlicht und ergreifend falsch." (ANM: Rainald
Goetz, in: Katja Diefenbach, Techno 94, Spex 1-95, S.15)
Auf dieser Basis unterscheidet Goetz dualisierend zwischen einem reflexiven Sprechen über
Phänomene der Techno-Kultur und dem, was sich die verwickelten Individuen einfach so
erzählen, also den Alltagsdiskursen in der Techno-Kultur. (ANM: Dies ist zunächst sicher
eine fragwürdige Setzung, denn es ist anzunehmen, daß die beiden unterschiedenen
Sprechweisen eine Schnittmenge bilden, also nicht klar trennbar sind Insofern kann auch
die isolierte Einheit der Alltagsdiskurse nicht ohne Formen der konkreten Performanz der
als reflexiv bestimmten Sprechweisen über Phänomene der Techno-Kultur vorgestellt
werden.)
Goetz' Ansatz besteht nun darin, vom Ausgangspunkt jener Alltagsdiskurse zu sprechen.
Auf einer Afterhour erinnert er sich: "Es gab einmal eine Zeit, wo es noch keine
Worte gab, für das alles hier. Wo das einfach so passierte, und man war mitten drin,
schaute zu, und hatte irgendwelche Gedanken dabei, aber ohne Worte. (...) Im Anfang waren
Sprüche. Die Geschichten bestanden aus Wiederholungen der im Nachtleben geborenen
Sprüche. (...) Und mit der Zeit bekamen diese Geschichten so langsam einen irgendwie
neuartigen Sound, ganz minimal nur, aber doch hörbar. (...) Die Sprache hatte sich
verändert. Im Inneren der Körper hatte das Feiern, die Musik, das Tanzen, die endlosen
Stunden des immer weiter Machens und nie mehr Heimgehens, und insgesamt also das exzessiv
Unaufhörliche dieses ganzen Dings - in jedem einzelnen auch den Resonanzraum verändert,
den zugleich kollektiven Ort, wo Sprache vor- und nachschwingt, um zu prüfen, ob das
Gedachte und Gemeinte im Gesagten halbwegs angekommen ist."(ANM: Rainald Goetz, Rave,
S. 253ff)
Für Goetz gilt also der mit Techno verbundene nochmalige völlige Neubeginn gleichfalls
für den Bereich des Sprechens (von Techno). Weiter existiert folglich so etwas wie eine
spezifische Techno-Sprache, die erst in der Techno-Kultur erfunden werden mußte, oder, um
es als etwas weniger starke These zu formulieren, zumindest ein techno-spezifisches
Verhältnis der Individuen zu ihrer Sprache. Er bestimmt dieses als ein primär
ästhetisches - die Anforderungen, denen sein Versuch, "Geschichten aus dem Inneren
der Nacht"(ANM: Rainald Goetz, Rave, Einband) zu erzählen, entsprechen muß,
betreffen die ästhetische Frage des Klangs der Sprache. "Die Schwierigkeit war
einfach: wie müßte so ein Text klingen, der von unserem Leben handelt. Ich hatte eine
Art Ahnung von Sound in mir, ein Körpergefühl, das die Schrift treffen
müßte."(ANM: Rainald Goetz, Rave, S. 32)
Zusammenfassend lässt sich festhalten, daß Rainald Goetz seinen Entwurf der
Techno-Kultur eng an eine radikal-individualistische Ethik koppelt. Aus der Maxime,
niemandem etwas vorzuschreiben, führt bereits eine Spur zum nächsten Goetzschen
Kriterium: der in der Techno-Kultur gegebenen sozialen und diskursiven Relativierung der
Rolle von Intellektualität. Die sich auf der Basis von Intellektualität konstituierenden
analytisch-reflexiven Diskurse bestimmt er als Diskurse der Negativität und sie
schließen daher ein sich positiv auf seinen Gegenstand beziehendes Sprechen aus.
Hieraus leitet Goetz bestimmte Schlußfolgerungen für seinen Text ab: Er setzt die
Sprache des Alltags und der unmittelbaren Verständigung jeglichen Formen
analytisch-reflexiver Sprache entgegen und situiert sein eigenes Sprechen - "aus dem
Inneren der Nacht" - in diesen Alltagsdiskursen. Goetz fasst die Alltagsdiskurse
hierbei unter dem ästhetischen Aspekt ihres Sounds.