3.3.3. Techno-Kultur und die Bedingungen
         des Sprechens von ihr bei Rainald Goetz (ANM: welche Texte)

"Die Schwierigkeit war einfach: wie müßte so ein Text klingen, der von unserem Leben handelt. Ich hatte eine Art Ahnung von Sound in mir, ein Körpergefühl, das die Schrift treffen müsste." (Rainald Goetz, Rave, S. 32)

Auf eine noch einmal andere Weise stellt sich das Problem Techno und Schriftkultur für Rainald Goetz. Goetz schreibt Romane, Erzählungen und Theaterstücke - seine Texte können also zunächst als primär literarische klassifiziert werden. Ihre Herangehensweise kann schon aus diesem Grund nur sehr mittelbar mit den an Poschardt explizierten Legitimationsproblemen wissenschaftlichen Sprechens verglichen werden. Dennoch stellen sich auch für ihn Probleme, wie er vom Komplex Techno sprechen kann und er entwickelt gewisse, dem Gegenstand Techno-Kultur abgeleitete Kriterien, die er an sein Sprechen stellt.

In seinem 1989 erschienenen Aufsatz "Drei Tage" beschreibt Goetz quasi sein Coming Out als Techno-Begeisterter und schildert, wie er zum ersten Mal Ecstasy genommen hat. Der Text erschien kurz nach seinem Erstabdruck in SPEX in einem Buch des Suhrkamp-Verlags (ANM: Rainald Goetz, Kronos), also an einem der - wenn man so will - klassischsten Orte der Hochkultur. Bereits dieser Hinweis mag die außergewöhnliche und fast paradoxale Situation seines Schreibens andeuten.

Biographisch fällt die Begeisterung für die Techno-Kultur mit allgemeineren Veränderungen in seinem Denken zusammen. Im gleichen Aufsatz notiert er: "Mit dem Selbstmord geht es mir wie mit dem Heroin: die Sicherheit der inkongruenten Perspektive ist mir irgendwie abhanden gekommen. Woher soll ich wissen, was im einsamen Seelenleben des Joggers, des Fixers, oder von Frau Beate Pinkerneil vorgeht, wenn sie Rudolf Augstein interviewt? Es wird jedem schon irgendwie angenehm sein, was er tut, wenn er es tut. Es ist einfach nicht plausibel, daß fast jeder von fast jedem anderem zu wissen glaubt, der wüßte nicht, was er tut, und würde eigentlich viel lieber etwas anderes tun, was er auch tun sollte. Aber vielleicht ergreift vielmehr jeder in jeder Situation die augenblicklich für ihn beste aller ihm gegebenen Möglichkeiten." (ANM: Rainald Goetz, Drei Tage, S. 266)

Goetz koppelt nun diese radikal individualistische Ethik, deren oberste Maxime die unanfechtbare Autonomie individuell getroffener Entscheidungen zu sein scheint, an seinen Entwurf von Alltagsdiskursivität in der Techno-Kultur.
Hierzu bestimmt er Techno-Musik zunächst als den nochmaligen völligen Neubeginn, der zudem "im Bereich der Sprache gearbeitet hat" und dort zu einem "puren Parlament der vielen Stimmen eines kollektiven Glücks"(ANM: Rainald Goetz, Die Ordnung der Ekstase, S. 18) geführt hat. Eine der Konsequenzen, die Goetz hieraus zieht, ist der Schluß auf ein Phänomen, das sich je nach Sichtweise als plumper Anti-Intellektualismus oder eine Demokratisierung der Diskurse, hinsichtlich der Dysfunktionalität der privilegierten Wirkungsweise intellektuell codierter Aussagen in jenen, fassen lässt. Er beschreibt genüßlich, wie diverse linksintellektuelle Musikjournalisten von Rolli, dem Türsteher einer Techno-Disco abgewiesen werden, denn: "Die nach eigenem Selbstverständnis Klugen und Sensiblen waren Rolli schlicht und einfach ein bißchen zu schlicht und stumpf, zu dumm. Sie konnten nicht feiern, wußten nicht was das ist: Exzeß. Saufen, Sex, Gewalt."(ANM: Rainald Goetz, Rave, S. 72)

Intellektualität und das Verwenden intellektueller sprachlicher Codes garantieren daher - im wahrsten Sinne des Wortes - keinen erleichterten Zugang zur Techno-Kultur.
Deren Diskurse müssen daher einer anderen Ordnung unterstehen: Die Rolle von Intellektualität, ihre allgemeine Definitionsmacht bezüglich der Sprache, die allgemeine Codierung, daß ihre Aussagen und Sichtweisen ein privilegiertes Verhältnis zur Wahrheit, also einen stärkeren Anspruch auf jene besitzen, ist für Goetz hier völlig suspendiert. Denn "eines stimmte sicher nicht: daß Worte die einzig denkbare und reale Form von Intelligenz wären, und die Wortemacher die automatisch intelligenten. Durchaus eher im Gegenteil."(ANM: Rainald Goetz, Rave, S. 260)

Doch existieren in Goetz' Texten Indizen dafür, daß er einen anders gelagerten, vielleicht noch grundsätzlicheren Dualismus sozusagen als strenge Arbeitshypothese benutzt. Er expliziert ganz konkret: "Sprache: no. Yes: Ein konkretes Leben."(ANM: Rainald Goetz, Rave, S. 263) Zugespitzter kann es, vor allem in Bezug auf die Ausgangsthese der zwangsläufig eintretenden Probleme des Sprechens über Techno, kaum formuliert werden.

Hieraus kann beispielsweise seine Abneigung gegen analytisch-reflexive Sprechweisen zum Thema abgeleitet werden. Goetz setzt die soziale Funktion analytisch-reflexiver Sprache determinierend als bloße Technik der Negation an. Derart über etwas zu sprechen, heißt für ihn, Nein dazu zu sagen. Im Einband seiner Erzählung Rave formuliert er die Bedingungen, unter denen sich sein Schreiben vom Gegenstand Rave (oder auch in anderen Worten: der Techno-Kultur) erst formieren konnte: "Schließlich war das Ding kaputt genug. Ich konnte darüber schreiben. Die Szene: verdunkelte Räume, Hotelzimmer, kleine Grüppchen. Vereinzelte, die eingefroren vor dem weißen Pulver sitzen. Starr und hektisch: die Dealer, das Denken, der Triumph der Negativität."(ANM: Rainald Goetz, Rave, Einband)

Der Begriff der Negativität ist dabei ein philosophischer und kein moralischer oder qualitativ wertender. Negativität hat, so gefasst, nichts damit zu tun, etwas schlecht zu finden, es also zu nicht zu mögen, sondern meint die Art und Weise, wie sich das Schreiben oder Denken auf den Gegenstand bezieht. Auf die Frage, "ob Techno für ihn ein Ausdruck von positivem Denken ist" (Diefenbach), antwortet er daher: "Nicht von positivem Denken im Sinne von gut, ... sondern Positivität im Sinne von Nicht-Negativität. Sprachliche und gedankliche Bewegungsformen sind automatisch abstoßend. Der Denkvorgang geht immer über eine Negation. Deshalb ist es so schwierig, in der schriftlichen Sprache direkte Zugriffe auf Dinge zu bekommen. Mit diesem Problem plagen sich alle herum, die auch schöne Momente schriftlich schildern wollen. Es ist entweder verlogen, kitschig oder schlicht und ergreifend falsch." (ANM: Rainald Goetz, in: Katja Diefenbach, Techno 94, Spex 1-95, S.15)

Auf dieser Basis unterscheidet Goetz dualisierend zwischen einem reflexiven Sprechen über Phänomene der Techno-Kultur und dem, was sich die verwickelten Individuen einfach so erzählen, also den Alltagsdiskursen in der Techno-Kultur. (ANM: Dies ist zunächst sicher eine fragwürdige Setzung, denn es ist anzunehmen, daß die beiden unterschiedenen Sprechweisen eine Schnittmenge bilden, also nicht klar trennbar sind Insofern kann auch die isolierte Einheit der Alltagsdiskurse nicht ohne Formen der konkreten Performanz der als reflexiv bestimmten Sprechweisen über Phänomene der Techno-Kultur vorgestellt werden.)

Goetz' Ansatz besteht nun darin, vom Ausgangspunkt jener Alltagsdiskurse zu sprechen.

Auf einer Afterhour erinnert er sich: "Es gab einmal eine Zeit, wo es noch keine Worte gab, für das alles hier. Wo das einfach so passierte, und man war mitten drin, schaute zu, und hatte irgendwelche Gedanken dabei, aber ohne Worte. (...) Im Anfang waren Sprüche. Die Geschichten bestanden aus Wiederholungen der im Nachtleben geborenen Sprüche. (...) Und mit der Zeit bekamen diese Geschichten so langsam einen irgendwie neuartigen Sound, ganz minimal nur, aber doch hörbar. (...) Die Sprache hatte sich verändert. Im Inneren der Körper hatte das Feiern, die Musik, das Tanzen, die endlosen Stunden des immer weiter Machens und nie mehr Heimgehens, und insgesamt also das exzessiv Unaufhörliche dieses ganzen Dings - in jedem einzelnen auch den Resonanzraum verändert, den zugleich kollektiven Ort, wo Sprache vor- und nachschwingt, um zu prüfen, ob das Gedachte und Gemeinte im Gesagten halbwegs angekommen ist."(ANM: Rainald Goetz, Rave, S. 253ff)

Für Goetz gilt also der mit Techno verbundene nochmalige völlige Neubeginn gleichfalls für den Bereich des Sprechens (von Techno). Weiter existiert folglich so etwas wie eine spezifische Techno-Sprache, die erst in der Techno-Kultur erfunden werden mußte, oder, um es als etwas weniger starke These zu formulieren, zumindest ein techno-spezifisches Verhältnis der Individuen zu ihrer Sprache. Er bestimmt dieses als ein primär ästhetisches - die Anforderungen, denen sein Versuch, "Geschichten aus dem Inneren der Nacht"(ANM: Rainald Goetz, Rave, Einband) zu erzählen, entsprechen muß, betreffen die ästhetische Frage des Klangs der Sprache. "Die Schwierigkeit war einfach: wie müßte so ein Text klingen, der von unserem Leben handelt. Ich hatte eine Art Ahnung von Sound in mir, ein Körpergefühl, das die Schrift treffen müßte."(ANM: Rainald Goetz, Rave, S. 32)

Zusammenfassend lässt sich festhalten, daß Rainald Goetz seinen Entwurf der Techno-Kultur eng an eine radikal-individualistische Ethik koppelt. Aus der Maxime, niemandem etwas vorzuschreiben, führt bereits eine Spur zum nächsten Goetzschen Kriterium: der in der Techno-Kultur gegebenen sozialen und diskursiven Relativierung der Rolle von Intellektualität. Die sich auf der Basis von Intellektualität konstituierenden analytisch-reflexiven Diskurse bestimmt er als Diskurse der Negativität und sie schließen daher ein sich positiv auf seinen Gegenstand beziehendes Sprechen aus.

Hieraus leitet Goetz bestimmte Schlußfolgerungen für seinen Text ab: Er setzt die Sprache des Alltags und der unmittelbaren Verständigung jeglichen Formen analytisch-reflexiver Sprache entgegen und situiert sein eigenes Sprechen - "aus dem Inneren der Nacht" - in diesen Alltagsdiskursen. Goetz fasst die Alltagsdiskurse hierbei unter dem ästhetischen Aspekt ihres Sounds.