4.1.1. Die Stellung der Subjektkategorie
         in der poststrukturalistischen Theorie

Im Folgenden werde ich mich auf eine grobe Skizzierung einiger allgemeiner Aspekte beschränken mittels derer jene Texte vereinheitlichend zusammengefaßt werden können, die üblicherweise unter den Begriffen Poststrukturalismus, Postmoderne und Dekonstruktion gruppiert werden. Eine differenzierende und die Begriffe voneinander abgrenzende Analyse wird im Folgenden daher nicht gegeben. (ANM: Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich beispielsweise in: Peter Engelmann, Einleitung: Postmoderne und Dekonstruktion. Auch Engelmann kommentiert die drei Begriffe nicht, indem er sie inhaltlich und theoretisch voneinander differenziert, sondern verwendet sie in Analogie)

Derartiges böte sicherlich genügend Stoff für eine eigene Arbeit und wird obendrein von dem Faktum erschwert, daß die Formulierung der einzelnen Konzepte auch durch die zentralen begriffsprägenden Autoren, von denen zumindest Jacques Derrida für den Begriff der Dekonstruktion und Jean-Francois Lyotard für den der Postmoderne angegeben werden können, kaum dezidiert vorliegt.

Zur Orientierung kann angegeben werden, daß sich der Begriff Poststruktrualismus zumeist auf die Bezeichnung einer philosophischen Tradition bezieht, demgegenüber die Postmoderne eher als kulturhistorische Epoche, die auf die Moderne folgt, angesehen werden kann. Der Begriff Postmoderne findet sich daher auch in Kunst und Architektur, wo er spezifische Stilrichtungen bezeichnet. Mit Dekonstruktion werden dagegen häufig textanalytische Vorgehensweisen bezeichnet, die sich mehr oder weniger streng an den von Jacques Derrida erarbeiteten Formen der kritischen Re-Lektüre bestehender Texte orientieren.

Poststrukturalistischer Theorie kann allgemein attestiert werden, daß sie sich auf eine Vorstellung stützt, die das Soziale auf der Basis von Sprache denkt. (ANM: Vgl. hierzu Peter Engelmann, Einleitung: Postmoderne und Dekonstruktion, S. 10ff) Jean-Francois Lyotard schlägt beispielsweise als methodologische Basis den Bezug auf eine an Ludwig Wittgenstein angelehnte Theorie der Sprachspiele vor. (ANM: Vgl. Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 36ff) Demnach werden Sinnverhältnisse und Bedeutungen erst im Diskurs, also durch die Sprachspiele, konstituiert. Der Sinn ist demnach nicht per se gegeben und damit eine quasi natürlich vorhandene Sache, er ist nicht bereits schon vor dem Diskurs da, sondern wird erst als diskursiver Effekt in diesem konstruiert.

Wie Foucault formuliert: "Der Diskurs ist nicht in ein Spiel von vorgängigen Bedeutungen aufzulösen. (...) Es gibt keine prädiskursive Vorsehung, welche uns die Welt geneigt macht." (ANM: Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, S. 34)


Das Sichtbarmachen der prädiskursiven Vorraussetzungen

Als Ausgangspunkt kann Manfred Frank herangezogen werden, der mit der Vorlesungsmitschrift "Was ist Neostrukturalismus?" eine umfassende kritische , wenn auch bisweilen etwas ins Polemische abgleitende Abhandlung des Post-, beziehungsweise Neostrukturalismus vorgelegt hat. Er formuliert als Quasi-Essenz der dekonstruktivistischen Herangehensweise den "Abbau des Mauerwerks, auf dem eine Gedankentradition errichtet ist, bis auf die Fundamente (und eventuell auch: Abbau der Fundamente selbst), damit auf gleichen oder anderen Fundamenten ein neuer, ein überzeugenderer Gedanke - oder auch: derselbe Gedanke in überzeugenderer Form wieder aufgerichtet werden kann." (ANM: M. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, S. 400)

Frank bezieht sich hier sehr stark auf die Arbeiten Jacques Derridas und die in diesen entwickelte Methode der Dekonstruktion. Hierunter ist eine Vorgehensweise zu verstehen, die am besten als kritische Neulektüre bestehender Texte beschrieben werden kann. Zentrales Thema der Analyse ist dabei die Freilegung der im Stillen mitgedachten und konstitutiven Vorraussetzungen der zu dekonstruierenden Texte. Es geht also primär darum, auf welcher konstituierenden Basis sich diese Texte und das ihnen zugrundeliegende Denken entwickelt haben und erst entwickeln konnten. "Das, was man die Vorraussetzungen nennt, das sind die nicht kritisierten, die nicht analysierten Vorraussetzungen."(ANM: Peter Engelmann, Vorwort: Postmoderne und Dekonstruktion, S. 22, in: Peter Engelmann (Hrsg.), Postmoderne und Dekonstruktion, Reclam, Stuttgart 1990.)

Eine ähnliche Vorgehensweise impliziert Jean-Francois Lyotards Begriff der Metapräskriptive. Unter diesen sind dem Diskurs vorausgehende diskursive und begriffliche Setzungen zu verstehen, die als Basis oder Fundamente des Diskurses funktionieren.

In der programmatischen Schrift "Das postmoderne Wissen" situiert Lyotard das Subjekt so als jene Instanz, die zu Beginn der Neuzeit an die Stelle Gottes tritt, um die Funktion einzunehmen, als Rechtfertigungsinstanz und letzte Referenz diskursiver Ableitungen zu dienen. Der Mensch wird zum erkennenden Subjekt, das sich der zu erkennenden Welt als Objekt gegenüberstellt. Die sich hieraus ergebende Subjekt/Objekt-Relation wird zum zentralen Paradigma der neuzeitlichen Wissenschaften und von dort aus des gesamten Weltbilds überhaupt. Der auf das Subjekt des Denkens reduzierte Mensch nimmt so die Phänomene lediglich als Gedachte auf. In dieser grundsätzlichen Konstruktion liegt daher für Lyotard die vereinheitlichende Gleichmachung der wahrgenommenen Dinge begründet. Die Vielheit ihrer möglichen Eigenschaften reduziert sich schon aufgrund dieses gegebenen Verhältnisses, in dem sich Erkenntnis erst konstituiert.

Der Mensch beziehungsweise das Subjekt funktioniert derart als dem Diskurs und überhaupt jeglicher Erkenntnis vorgängig gesetzte Entität, die somit Vorbedingung der Entstehung von Diskursen, Reflexionen und Gedanken schlechthin ist. Die Kategorie des Subjekts hat so den Status eines vorausgesetzten Metapräskriptivums. (ANM: Vgl. hierzu Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Kap. 8-10, S. 87-122)
Im Rahmen der gesamten Verteilung der möglichen prädiskursiven Vorraussetzungen nimmt die Kategorie des Subjekts dabei eine zentrale und privilegierte Stellung ein.


Charakteristische Grundzüge poststrukturalistischer Theorie

So verwundert es kaum, daß Lyotard aus dem zentralen poststrukturalistischen Thema der Sichtbarmachung der implizierten Voraussetzungen ableitet, die Thematisierung dieser Voraussetzungen sei in poststrukturalistischen Diskursen zu integralen Bestandteilen dieser zu machen. "Wie gesagt, der auffallende Zug des postmodernen Wissens besteht in der - jedoch expliziten - Immanenz des Diskurses über die Regeln, die seine Gültigkeit ausmachen." (ANM: Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, Passagen Verlag, Wien 1994, S. 160f) Ganz ähnlich äußert sich Foucault, der formuliert: "Wir müssen die historischen Bedingungen kennen, die unserer Begriffsbildung zugrundeliegen." (ANM: Michel Foucault, Das Subjekt und die Macht, S. 244)

Postmodernes Wissen muß, derart gefaßt, seine Vorraussetzungen und begrifflichen Bedingungen immer bereits mitwissen. Die Bewegung, die der poststrukturalistische Diskurs derart umrissen vollzieht, ist regelmäßig eine doppelte: einerseits geht es darum, existierende prädiskursive Voraussetzungen freizulegen, zu benennen und zu kritisieren, sie also zu dekonstruieren, andererseits entstehen genau auf dieser Basis und den aus ihr resultierenden Konsequenzen wieder neue, sich von den dekonstruierten unterscheidende Aussagen. Lyotard faßt zusammen:

"Die differenzierende Aktivität oder die der Erfindungskraft (...) haben in der aktuellen wissenschaftlichen Pragmatik die Funktion, diese Metapräskriptiven (die Vorraussetzungen) hervortreten zu lassen und zu fordern, daß die Partner andere akzeptieren. Die einzige Legitimierung, die eine solche Forderung letztlich annehmbar macht, ist, daß dies Ideen, das heißt neue Aussagen, hervorbringen wird."(ANM: Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 187, Passagen Verlag, Wien 1994)

Die Dekonstruktion der Präskriptionen kann also gleichfalls auf poststrukturalistische Texte angewendet werden. Daher und aufgrund Lyotards sich hieraus schlüssig ergebenden Postulats, das postmoderne Wissen müsse seine prädiskursiven Setzungen stets mitwissen, ist dieses permanent der Möglichkeit der Veränderung und Neufassung ausgesetzt. Prinzipien des Diskontinuierlichen werden so konstitutiv. Die Betonung muß nun auf den Dissens gelegt werden, wie Lyotard formuliert. (ANM: Vgl. Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 176) Die Konsequenzen, die hieraus für das postmoderne Wissen entstehen, geben "Anlaß zu Paradoxa" und führen "zu Begrenzungen in der Tragweite des Wissens, die in Wahrheit Modifikationen seiner Natur gleichkommen." (ANM: Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 160/161)

Daher "entwirft die postmoderne Wissenschaft die Theorie ihrer eigenen Evolution als diskontinuierlich, katastrophisch, nicht zu berichtigen, paradox. Sie verändert den Sinn des Wortes Wissen, und sie sagt, wie diese Veränderung stattfinden kann. Sie bringt nichts Bekanntes, sondern Unbekanntes hervor." (ANM: Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 173)

Das Prinzip der Diskontinuität findet seine Entsprechung in den häufig verwendeten Begriffen der Fragmentarisierung und Zerstückelung, der Betonung von Singularitäten und Vielheiten, (ANM: zu den Begriffen Singularität und Vielheiten vgl. Gilles Deleuze, Logik des Sinns, S. 132ff und Gilles Deleuze/Felix Guattari, Tausend Plateaus, S. 11ff) oder auch in der verbreiteten Redewendung, poststrukturalistische Theorie beruhe in erster Linie auf einem begrifflichen Denken der Differenz.

"Insoweit die Wissenschaft differenzierend ist, stellt sie in ihrer Pragmatik das Anti-Modell des stabilen Systems dar. Jede Aussage ist festzuhalten, sobald sie einen Unterschied zum Bekannten enthält, sobald sie argumentier- und beweisbar ist. Sie ist ein Modell eines offenen Systems, in welchem die Relevanz der Aussage darin besteht, Ideen zu veranlassen, das heißt andere Aussagen und andere Spielregeln." (ANM: Jean-Francois Lyotard, Das postmoderne Wissen, S. 185)


Konsequenzen für die Kategorie des Subjekts im Poststrukturalismus

Anschaulich findet sich die Situierung der Kategorie des Subjekts in Foucaults Einleitung zur "Archäologie des Wissens" dargestellt.
Foucault koppelt das Thema des Subjekts zunächst an die skizzierte Entwicklung hin zum Diskontinuierlichen. Er diagnostiziert in dem Ende der 60er Jahre verfassten Buch bestimmte Modifikationen in der Art und Weise, wie Geschichtsschreibung funktioniert. Dabei kann eine deutliche Tendenz der Vervielfältigung der wahrgenommenen Brüche in der Ideengeschichte konstatiert werden. Anstelle der kontinuierlichen Chronologie der Vernunft finden sich nun vermehrt kurze, differente, sich Vereinheitlichungen widersetzende Abstufungen, die nicht auf das Modell eines allgemeinen, sich linear fortschreitend entwickelnden Bewußtseins zurückgeführt werden können.

Wie erläutert nimmt der Begriff der Diskontinuität eine zunehmend zentralere Funktion ein. "Für die Geschichte in ihrer klassischen Form war das Diskontinuierliche gleichzeitig das Gegebene und Undenkbare: das, was sich in der Art der verstreuten Ereignisse (Entscheidungen, Zufälle, Initiativen, Entdeckungen) bot; und was durch die Analyse umgangen, reduziert, und ausgelöscht werden mußte, damit die Kontinuität der Ereignisse erscheinen konnte. Die Diskontinuität war jenes Stigma der zeitlichen Verzettelung, die der Historiker aus der Geschichte verbannen mußte. Sie ist jetzt eines der grundlegenden Elemente der historischen Analyse geworden." (ANM: Michel Foucault, Archäologie des Wissens, S. 17)

Die Diskontinuität wird also von dem, was die Geschichtsschreibung durch ihr Tun zu bannen suchte, zu einem konstitutiven Prinzip ihrer selbst.

Die Kategorien der Kontinuität und des Subjekts gehören für Foucault zusammen, bedingen einander und sind in dieser Verschränktheit Spezifika ein und derselben Tradition des Denkens. "Wenn die Geschichte des Denkens der Ort der ununterbrochenen Kontinuitäten bleiben könnte, (...) wäre sie für die Souveränität des Bewußtseins ein privilegierter Schutz. Die kontinuierliche Geschichte ist das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts: die Garantie, daß alles, was ihm entgangen ist, ihm wiedergegeben werden kann; die Gewißheit, daß die Zeit nichts auflösen wird, ohne es in einer erneut rekomponierten Einheit wiederherzustellen; das Versprechen, daß all diese in der Ferne durch den Unterschied aufrechterhaltenen Dinge eines Tages in der Form des historischen Bewußtseins von Subjekt erneut angeeignet werden können und dieses dort seine Herrschaft errichten und darin das finden kann, was man durchaus eine Bleibe nennen könnte. Aus der historischen Analyse den Diskurs des Kontinuierlichen machen und aus dem menschlichen Bewußtsein das ursprüngliche Subjekt allen Werdens und jeder Anwendung machen, das sind die beiden Gesichter ein und denselben Denksystems." (ANM: Michel Foucault, Archäologie des Wissens, S. 23, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt 1981)

Demnach bedingen also Denken und Diskurse, die den Prinzipien der Kontinuität verhaftet sind, die prädiskursive Voraussetzung der Kategorie des Subjekts als Stifterbegriff. Foucaults Term von der "Stifterfunktion des Subjekts" kann dabei als spezifizierte Variante von Lyotards Modell der zu hinterfragenden Metapräskriptive bestimmt werden.

Auf dieser Basis faßt Thomas Seibert die sogenannten Poststrukturalisten dahingehend zusammen, daß er die Suspendierung der Subjektkategorie in ihrer Stellung als prädiskursive Setzung als das charakteristische Gemeinsame begreift. "Gemeisam ist ihnen (den Poststrukturalisten; B.S.), daß sie zumindest auf theoretischer Ebene den Versuch unternehmen, ohne die methodische Voraussetzung eines sinn- und bedeutungsstiftenden Subjekts auszukommen." (ANM: Thomas Seibert, Zur Kritik des philosophischen Humanismus, S. 49, in: Die Beute, Winter 1997/1998)