»Prima leben und sparen«

Im vollen Bewusstsein der Demütigungen des Konsums, wandelte ich mal wieder an den Geschäften vorbei, drückte mir die Nase an den Scheiben platt und wollte all die schönen Dinge dahinter. Ein Stolpern, die Parole »Gegen den Sozialabbau – organisiert den Kaufhausklau!«, Irritation, ja Diebstahl ist doch auch ne Taktik: gegen den Lohnklau, Zeitklau, Lustklau sich das schöne Leben anzueignen. Wow, dachte ich, das hast du dich ja auch schon ewig nicht mehr getraut. Eigentlich war bei mir auch die Luft raus, als ich vor ein paar Jahren im Minimal beim Klau eines Pelikano-Füllers just den jungen Mann beim Einstecken des Markenproduktes so entwaffnend anlächelte [so kam ich doch bisher immer durch], der mir dann Minuten später kurz vor dem Ausgang genauso freundlich lächelnd entgegentrat und seinen Detektivausweis hinhielt. Erwischt. Oh je! War mir das peinlich, mit einem Pelikano-Füller! Aber das Unwohlsein kam eigentlich eher über das Alleinsein – keine »partners in crime« um den Misshergang hinterher in Kritik-Selbstkritik-Runden zu besprechen. Nun, die Sache kostete 300 DM, aber seitdem rechne ich doch vorher immer durch und versuche die schönen Dinge Dinge sein zu lassen.

Meine besseren Erfahrungen gegen das System machte ich, wie so oft, in der Gruppe. Einige Zeit vor meinen Minimal-Schicksal trafen sich einmal die Woche Delegierte mehrer WGs, um in einem Auto durch Frankfurt und Umland zu ziehen – eben in die Viertel, wo wir nicht wohnten – und dort im Team einzuklauen. Da es dort noch Supermärkte gab, die entweder – ganz billig – eine Lichtschranke oder zumindest ein relativ unbeobachtetes Drehkreuz besaßen, über das man leicht einen Einkaufskorb drüber heben konnte, nutzten wir diese Eventualitäten gnadenlos aus. Im Zweifelsfall, gerade im Sommer, gab’s immer noch die Ausrede: »... ich muss noch mal nach draußen, die Orangen von der Auslage mitnehmen«. Doch eigentlich benötigt haben wir diese nie. Besonders die Märkte der Schade-Kette hatten diese Methode nicht auf ihrem Scanner. So ließen wir uns Zeit, auch Zeit alles zu beobachten und wurden darin immer sicherer. Hatten auch die Gewissheit, dass sich im Notfall einEr dazwischen stellt oder halt das Blumenregal umschmeißt. Insgesamt schulte das nicht nur – im Gegensatz zum üblichen Ware-in-aller-Heimlichkeit-verschwindenlassen – die kriminelle Energie, sondern auch den mikrosoziologischen Blick auf das class/race/gender/consumer-Verhalten in HL- oder Tengelmann-Märkten, die Streuung der Klientel über verschiedenen Uhrzeiten: morgens mehr Hausfrauen oder Arbeitslose, mittags SchülerInnen [super, mit denen waren sie beschäftigt] abends war’s dann manchmal auch zu voll: »das Leben nach dem Business kann ganz schön hektisch machen«. Die Märkte im Umland waren zwar sehr betulich und verschlafen, dafür warst du ab 5km hinter der Stadtgrenze oft schon das Alien. Das schulte natürlich auch Techniken wie Verkleidung und Performanz: etwas bessere Klamotten, aber nicht zu dick aufgetragen – oft gab es schon große Lacher, wenn sich einige versuchten, betont bürgerlich zu kleiden, aber als Vorlage wohl eher den 1973 er Neckermann-Katalog benutzten. Natürlich führten auch diese Taktiken früher oder später zum typisch kleinkriminellen Größenwahn – statt Einkaufskörben gleich Einkaufswagen rausschieben: »Lass uns Vokü zum Nulltarif machen«, »Warum hast du die billige Marmelade genommen und nicht die von Mövenpick?« – »Äh, die Vierfrucht schmeckt mir besser« – »Ach so!« Der Spaßfaktor war enorm viel höher als beim individuellen Einkauf – auch konnten wir uns so gleich verbunden fühlen mit den Massen der Welt – »Bildet Banden!« usw. Doch in die Kaufhäuser trauten wir uns nicht, die elektrischen Piepser, auch wenn anfangs oft fake, waren uns suspekt. Zwar war in der radikal immer so eine Sozialrevoluzzer-Serie1 mit tollen Tipps wie der doppelbödigen Tasche – aber allein die Konstruktionsanleitungen trieben mir immer schon den Schweiß auf die Stirn und ich sah mich wochenlang in Papas Heimwerkerkeller am Rumtüfteln, und das war es mir dann doch nicht wert.

Mittlerweile sind Piepser Standardausstattung und auch sonst hat innenarchitektonisch die präventive Aufstandsbekämpfung zugeschlagen. Die luschigen Schade-Märkte (jetzt Tengelmann) haben meist am Drehkreuz noch ne Kleinbäckerei installiert oder irgendein Fuzzi macht dort Produktpräsentation. Die unübersichtlichen Yucca-Palmen zwischen Kasse und Ausgangsbereich werden auch seltener und die teuren Mach3-

Rasierklingen gibt’s sowieso nur hinter Gitter an der Kasse. Ich möchte das jetzt nicht zu sehr zerreden, aber Praxis mit diesen Experimenten habe ich nicht mehr. Außerdem gehe ich auch mehr arbeiten und die Verabredung mit vier WGs erfordert wahrscheinlich eine dreiwöchige Terminplanung ...

Nun jetzt könntet ihr sagen, dass war ja auch ganz schön individuell, auch wenn du das jetzt als kollektive Prozesse verkaufst. Und mit dieser These steht ihr dann ja auch immer auf der sicheren Seite. Auch Hausbesetzen statt Miete zahlen, funktioniert nur für die, die dort wohnen. Wo kämen wir denn dahin, wenn das alle machen würden! Wenn ich – alte Neugier – nur wüsste, was alle machen. Sitz ich heute auf einer linksradikalen Veranstaltung, verbinden mich seltenst rebellische Alltagserfahrungen mit den Leuten. Es geht nicht darum, im Nachhinein tolle linke Stammtisch-Geschichten zu erzählen, sondern viel mehr darum, sich überhaupt Geschichten zu erzählen. Manchmal denke ich, je mehr ich über subversive Alltage theoretisiere, desto unkreativer ist mein eigener geworden.

Donato Lopez

>notes<

>1< »Gegen den Sozialabbau – organisiert den Kaufhausklau!« (radikal Nr. 143, Mai 1991) Wer diese Bauleitung einfach findet, kann sich ja gerne mal dran versuchen – ich komme mit zum Austesten.




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»life-work-balance à la grecque«

Als Nikos seinen neuen Job als Vertreter eines Pharma-Riesen antrat, hatte er gemischte

Gefühle. Einerseits freute er sich, mit Mitte Dreißig endlich sein eigenes Geld zu verdienen und noch dazu einen Dienstwagen zu haben, andererseits war es ihm ausgesprochen peinlich, sich an die Kapitalisten verkauft zu haben. Dies änderte sich, als ihm aufging, dass er letztendlich doch richtig gehandelt hatte, denn man könne ja das System nicht nur von außen bekämpfen, sondern auch von innen untergraben. Von dieser Perspektive aus hatte er einfach für die zweite Möglichkeit optiert. Folgerichtig begann er dann seinen Dienstwagen in jedes Schlagloch hineinzufahren – mit den Triumphgeschrei: »Noch ein Schlag gegen den Kapitalismus!« In zwei Jahren hat er drei Dienstwagen zu Schrott gefahren und ist sehr stolz darauf.

Eine weitere Untergrabungsmöglichkeit ergibt sich aus der Spesenabrechnung. Er bezahlt einen bei McDonald’s beschäftigten illegalen Albaner, damit dieser Quittungen für ihn sammelt – diejenigen über die höchsten Beträge nimmt er dann mit, um sie bei seinem Arbeitgeber einzureichen. Natürlich isst er den McDonald's Frass nicht – der ist schlecht und überteuert. Subversionsmöglichkeiten ergeben sich auch daraus, dass er quasi selbständig arbeitet und von seiner Chefin nur telefonisch kontrollierbar ist. Er hat sich von einem befreundeten Mechaniker ein Bleikästchen herstellen lassen, in dem sein Handy keinen Empfang hat (ausschalten darf er es nicht). So kann er während der Arbeitszeit ruhig baden oder klettern – sein bisheriger Rekord beträgt 34 Arbeitstage am Strand (die Felswand zum Klettern steht auch da). Für Boni hat Nikos auch nichts übrig. Als ihm ein Trip in die Karibik zu Jahresende für die Erfüllung seiner Verkauf-Targets versprochen wurde, wurde er richtig wütend. Er hätte überhaupt kein Interesse – weder an der Karibik, noch an sonstigen Boni –, er wolle einzig und allein seine Ruhe! Insgesamt ist das ganze Team von Pharma Ellas nicht ausgesprochen leistungsorientiert. Konkurrenz innerhalb des Teams ist verpönt und zu Monatsende werden die Targets angeglichen, so dass diejenigen, die mehr geleistet haben, freiwillig an die anderen abgeben. Der Mechanismus scheint gut zu funktionieren, denn zur Zeit sitzen sie alle zusammen auf Kosten des Arbeitgebers an der portugiesischen Küste :–)

eb




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»sick of it all«


Im Frühjahr 2001 begann Herr K., nach etwa einjähriger Arbeitslosigkeit, für ein Callcenter im Berliner Bezirk Friedrichshain zu arbeiten. 5 Tage pro Woche, 8 Stunden am Tag telefonierte er für ein privates Stromunternehmen, übertrug Verträge und Zählerstände in eine Datenbank und sortierte Verträge und Zählerstandskarten in die dafür vorgesehenen Schubladen. Bald beförderte man K. Er war nun kein einfacher Callcenter Agent mehr, sondern Teamleiter. In dieser Funktion briefte er die einfachen Agents, teilte ihnen die Arbeit zu, überwachte sie und entschied in Zweifelsfällen. Er erhielt mehr Verantwortung und mehr Lohn. Im Herbst wurde K. krank. Ende November erhielt er per Post eine erste Abmahnung. In dem mit »freundlichen Grüßen« unterschriebenen Schreiben wurde die Abmahnung mit einem Verstoß gegen § 5 Abs. 1 EFZG begründet. Jeder

Arbeitnehmer sei verpflichtet »dem Arbeit-geber die Arbeitsunfähigkeit und deren voraussichtliche Dauer unverzüglich mitzuteilen.« Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als drei Kalendertage, hat der Arbeitnehmer eine ärztliche Bescheinigung über das Bestehen der Arbeitsunfähigkeit sowie deren

voraussichtliche Dauer spätestens an dem darauffolgenden Tag vorzulegen«. K. wurde vorgeworfen gegen diese Meldepflicht verstoßen zu haben, indem er nicht rechtzeitig eine ärztliche Folgebescheinigung eingereicht hätte. Ferner wurde K. darauf hingewiesen, dass »im Wiederholungsfalle eine ordentliche Kündigung gerechtfertigt ist«. Kurz darauf verfasste K. ein Schreiben, in dem er sich über die Abmahnung erstaunt zeigte. Er behauptete die Folgebescheinigung rechtzeitig verschickt und sich auch telefonisch gemeldet zu haben. Als K. Anfang Dezember von seiner Krankheit genesen und den ersten Tag wieder im Betrieb war, hielt »Callcenter Manager« N. eine Ansprache vor den versammelten Teamleitern. Er kritisierte den hohen Krankenstand der letzten Wochen. Außerdem erklärte N., dass eine Abmahnung die Degradierung vom Teamleiter zum normalen Agent nach sich ziehe. Nach dieser Ansprache und einem persönlichen Gespräch, in dem Manager N. den Vorfall um die zu spät eingegangene Bescheinigung als »Kinderkacke« bezeichnet hatte, hielt K. die Angelegenheit für erledigt. Dies war eine Fehleinschätzung. K. erkrankte auch in der Folgezeit. Im Februar erreichte ihn eine 2. Abmahnung. Als Begründung wurde wiederum ein Verstoß gegen die Meldepflicht

angeführt, aber kein konkreter Vorfall. Des weiteren wurde K. mitgeteilt, dass »auf Grund dieser Abmahnung wir Sie nicht mehr als Teamleiter einsetzen werden«. In seiner Antwort bedauerte K., dass »ich aus gesundheitlichen Gründen so lange nicht mit meiner

Arbeitskraft zur Verfügung stehen konnte«. Über seine Anwältin ließ er der Abmahnung widersprechen: »Die neuerliche Abmahnung beruht möglicherweise auf einem Irrtum. Unser Mandant war zunächst lt. Folgebescheinigung (...) vom 29. 01 .02 bis 01.0 2. 02 arbeitsunfähig krank. Er erkrankte nach dem Wochenende am 04.0 2. 02 erneut und meldete sich telefonisch (...) krank. Er begab sich am 05.0 2. 02 zum Arzt, der ihm eine Erst-

bescheinigung ausstellte, die an Sie noch am selben Tag abgeschickt wurde (...) und am 6. 2. 02 bei Ihnen eingegangen sein müsste. Ein Verstoß gegen § 5 Abs. 1 EFZG ist nicht erkennbar und kann am 5. 2. 02 auch noch gar nicht vorgelegen haben. Bitte überprüfen Sie die Daten und Ihre Rechtsauffassung.« Statt einer Antwort erhielt K. zwei Wochen später die 3. Abmahnung, sowie die Kündigung zum 18. 03. 02. Für seinen »weiteren Berufs- und Lebensweg« wünschte man ihm »alles Gute«. Im internen Netzwerk der Firma wurde K.s Entlassung bereits bekannt gegeben bevor er sie selber erhalten hatte. Möglicherweise hatte man sich auf Seiten der Betriebsleitung über die launische Gesundheit K.s geärgert. Er wurde nämlich nach sechs Wochen am Wochenende gesund, um am Montag von einer anderen Krankheit niedergeworfen zu werden. Deshalb musste auch weiterhin der Betrieb und nicht die Krankenkasse zahlen. Sollte man K. von Seiten der Geschäftsleitung böse Absicht unterstellt haben, so war man jedoch klug genug gewesen, dies nicht zu äußern. K. antwortete prompt und verlieh seiner Enttäuschung über das Verhalten der Geschäftsleitung Ausdruck. Er forderte, die Kündigung zurückzunehmen und die Abmahnungen aus der Personalakte zu entfernen. Darüber hinaus drohte er mit einer »Arbeitsschutz- und Statusklage« für den Fall, dass seinen Forderungen nicht entsprochen würde und beantragte, seinen noch ausstehenden Urlaub von Anfang März bis zum Tag seiner Kündigung wahrnehmen zu dürfen. Da er ohne Antwort blieb, reichte K. Klage beim Arbeitsgericht Berlin ein. Außerdem wandte er sich schriftlich an den Betriebsrat, der seiner Kündigung zugestimmt hatte ohne ihn zuvor anzuhören. Der Betriebsrat antwortet noch am selben Tag: »Ihr Schreiben vom 21. 2. 02 mit der Bitte um Kenntnisnahme ist bei uns am 25. 02. 02 eingegangen. Wir haben Ihr Schreiben zur Kenntnis genommen und daher von einer Beantwortung abgesehen. Dem Schreiben war Ihr Wunsch nach Anhörung (...) nicht zu entnehmen.« Trotz der Auffassung des Betriebsrates nahm die Firma nach einer Güteverhandlung am Arbeitsgericht Berlin die im Februar ausgesprochene Kündigung zurück. K. erschien also am Montag, den 22. April pünktlich zur Arbeit. Sehr zum Erstaunen seiner Kollegen, denen ja seine Kündigung mehr als zwei Monate zuvor mitgeteilt worden war. K. erkrankte nach zwei Tagen und war für die nächste Zeit arbeitsunfähig. Ende Juni wurde auf Vorschlag des Arbeitsgerichtes ein Vergleich geschlossen. Das Callcenter bezahlte K. bis zum 15. Juni 2002 als Teamleiter und außerdem eine »soziale Überbrückungshilfe von 600 EUR«. Das Arbeitsverhältnis endete einvernehmlich. K. nahm von einer Entfristungsklage Abstand und bedankte sich in einem letzten Schreiben »für den sehr interessanten und aufschlussreichen Einblick, den ich in Ihre Firma nehmen durfte.« Sogar die Arbeit hätte ihm Spaß gemacht, »vor allem in den letzten vier Monaten.«

Jakob Müller




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Gesundheitsmanager

Für den Erhalt Ihrer Arbeitskraft.

Um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können, ist ein sorgsamer Umgang mit der eigenen Gesundheit unerlässlich. Euren Körper kennt nur Ihr selbst richtig gut. Häufig verdrängt man in all dem Stress wichtige Krankheitssymptome. Eurem Arbeitgeber gefällt das sicherlich sehr gut, doch einen Gefallen tut Ihr Euch damit nicht. Deshalb unser Rat: Schon die geringsten Hinweise auf Unwohlsein oder nahende Krankheiten solltet Ihr Eurem Arzt vorstellen – vor allem dann, wenn Ihr dringend eine Krankschreibung benötigt. Auch wenn Ihr Eurer Arbeit nur sehr ungern fernbleibt, solltet Ihr Euch krankschreiben lassen.

Nicht selten kommt es vor, dass bestimmte Krankheiten nur schwer erkannt werden. Manchmal wird sogar der Vorwurf laut, man würde nur simulieren. Und das alles nur, weil diese Krankheiten wirklich sehr schwer nachzuweisen sind. Ihr solltet dennoch mit Nachdruck Eure Symptome beschreiben und darauf hinweisen, dass es Euch wirklich schlecht geht (sonst würdet Ihr doch nie zum Arzt gehen).

Im folgenden werden vier solcher schwer nachweisbaren Krankheiten beschrieben. Nur wenn Ihr die Symptome sehr klar beschreiben könnt, kann Euch Eure Ärztin helfen und wird Euch eine Krankschreibung sicher nicht verwehren. Wenn Ihr sie nicht verärgern wollt, stellt nicht selbst die Diagnose, sondern beschränkt Euch auf die detaillierte Beschreibung der Symptome. Lediglich bei Migräne wird es Euch niemand verübeln, wenn Ihr schon selbst wisst, was Euch schon wieder plagt. Es wäre ja nicht das erste Mal. Im Sinne der eigenen Gesundheit sollte man aber auch mit Medikamenten, Spritzen oder Röntgenaufnahmen nicht zu sorglos umgehen. Sollte Eure Ärztin Euch nicht glauben wollen oder aber mit einer Radikalbehandlung drohen, scheut Euch nicht, einen anderen Mediziner aufzusuchen.

*** Migräne ***

Wie lange? Maximal eine Woche, tritt dafür aber häufig auf.

Wer wird krank? Jede und jeder. Sehr viele Leute leiden unter Migräne.

Beschwerden?

1. Es beginnt damit, dass Du gereizt und unausgeschlafen aufgewacht bist.

2. Zum Frühstück hast Du nichts runterbekommen, weil Dein Magen wie zugeschnürt war.

3. Nachdem Du Dich so eine halbe bis zwei Stunden rumgeschleppt hast, haben die Kopfschmerzen begonnen.

4. Die Schmerzen können ganz unterschiedlich sein. Versuche zu beschreiben, was auf Dich zutrifft:

***dumpf-drückend und pulsierend bis bohrend-pulsierend, einseitig oder beidseitig, besonders stark im Bereich der Stirn, Schläfe(n), der Augen.

5. Du warst plötzlich extrem lichtempfindlich und musstest die Vorhänge zuziehen.

6. Lärm ist für Dich unerträglich.

7. Allmählich wurde Dir schlecht, schlimmstenfalls musstest Du gallig (gelb, bitter) erbrechen, wobei Du Schweißausbrüche hattest.

8. Die Kopfschmerzen und auch die Übelkeit können mehrere Tage andauern.

9. Wahrscheinlich hattest Du schon öfter solche Migräneanfälle, oft – aber nicht nur – nach Alkoholgenuss. Allerdings reicht schon ein Glas Wein aus, um die Schmerzen auszulösen. Migräneanfälle treten häufig auch bei Stress und Wetterwechsel auf, bei Frauen besonders oft während der Periode.

10. Die Schmerzen können auch erst später am Tag aufgetreten sein: Nach dem Mittagessen hattest Du Dich plötzlich unruhig und unkonzentriert gefühlt, bis nach einer oder anderthalb Stunden Kopfschmerzen und Übelkeit sowie die übrigen Beschwerden eingesetzt haben ...

Was macht die Ärztin? Blutdruck messen, Blut abnehmen. Wenn Du häufiger solche Beschwerden hast, kommt eventuell eine Hirnstromuntersuchung auf Dich zu, damit eine Epilepsie ausgeschlossen werden kann.

Woran denkt sie? Die Migräne tritt anfallsartig auf. Sie ist eine Funktionsstörung der Gehirnschlagadern. Sie äußert sich zuerst eine halbe Stunde bis zwei Stunden lang in einer unzulässigen Verengung, danach für Stunden bis Tage in einer (noch unzulässigeren) Erweiterung dieser Adern, wodurch die Kopfschmerzen entstehen. Du kannst bei dieser Krankheit ruhig offen die Diagnose »Migräne« aussprechen, schließlich ist sie ja schon öfter an Dir diagnostiziert worden, und in Deiner Familie leiden wahrscheinlich auch viele darunter. Sie kann, da es auch schwerste Formen der Migräne mit Organstörungen geben kann, Dich auch nach Beschwerden wie Augenflimmern, schweren Sehstörungen, Sprachstörungen oder Kribbeln in Händen und Armen fragen. Überprüfe genau, ob Du diese Symptome hast. Wenn ja, muss Du Dich auf einige Untersuchungen gefasst machen. Wenn nicht, bleibt Dir einiges erspart.

Therapie? Erfolgt mit Medikamenten. Spritzen solltest Du auf jeden Fall ablehnen. Am besten, Du sagst selbst, welche Tabletten Dir helfen (z. B: Cafergot, Dihydergot, Migräne-Cranit oder normale Schmerzmittel wie Gelonida, Spalt, Optalidon). Das solltest Du Dir dann auch verschreiben lassen. Möglicherweise brauchst Du die Tabletten dann doch nicht. Wirf sie in diesem Fall lieber gleich weg. Nicht, dass Du später das Verfallsdatum übersiehst.

Warnung! Lass Dir auf gar keinen Fall eine Spritze verpassen. Auch Röntgenuntersuchungen, vor allem der Gehirnschlagadern, solltest Du verweigern. Dann wechsle lieber den Arzt.

*** Magenschleimhautentzündung (Gastritis)***

Wie lange? Mit einer Magenschleimhautentzündung, also einer Entzündung der Innenhaut des Magens, kannst Du zwei bis vier Wochen oder länger krankgeschrieben werden.

Wer wird krank? Die Magenschleimhautentzündung (oder auch ein Magengeschwür) kann jede und jeder mal kriegen. Ursachen sollen sein: Bakterien, unverträgliche Speisen, Alkohol oder Medikamente (z.B. nachdem Du ein Aspirin genommen hast). Arbeitest Du in einem Betrieb, so besteht die Möglichkeit, dort herrschenden oder neu verwendete Dämpfe und Gase als Ursache anzusehen. Die Magenschleimhautentzündung (und auch das Magengeschwür) ist das bekannteste Beispiel für eine Stresskrankheit, d.h. Du wirst krank wegen der vielen Hektik und Aufregung, die in Deinem Leben insbesondere bei Deiner Arbeit herrschen. Bei der Magenschleimhautentzündung erkennen sogar die Ärzte die sozialen und psychischen Ursachen an.

Beschwerden? Auch hier gibt es unterschiedliche Symptome:

1. Seit einigen Tagen ist Dir übel. Du hast auch schon gekotzt und muss ständig aufstoßen. Du hast keinen Appetit und einen permanenten Druck in der Magengegend, also zwischen Bauchnabel und Rippen.

2. Der Druck kann sich zu einem starken Schmerz steigern, der aber auch wieder abschwillt. Schon seit längerem schlagen Dir Situationen und Erlebnisse regelrecht auf den Magen.

(!) Wahrscheinlich hattest Du auch früher schon ähnliche Symptome, die Du aber nie richtig zu deuten wusstest.

Was macht die Ärztin? Beim ersten Mal kann es sein, dass Du nur befragt und gar nicht untersucht wirst. Vielleicht drückt sie Dir auf dem Bauch rum und fragt, wo es weh tut. Eventuell werden Blutuntersuchungen vorgenommen. Vielleicht wirst Du auch gefragt, ob die Schmerzen vor oder nach dem Essen besser oder schlechter werden – beides ist durchaus möglich. Nach zwei bis vier Wochen Krankschreibung wirst Du Dich eventuell einem Vertrauensarzt vorstellen müssen, der Dich röntgen oder eine Magenspiegelung vornehmen will. Wenn Du beidem nicht entgehen kannst, entscheide Dich lieber für die Magenspiegelung, die ist zwar unangenehmer aber nicht so belastend für den Körper. Da Magenspiegelungen nur von Fachärztinnen vorgenommen werden können, kann es gut sein, dass sich die Untersuchung etwas verzögert. Häufig werden diese auch durch die Spiegelung nicht schlauer. Bei vielen Leuten mit Magenbeschwerden gibt es keine »objektiven Befunde«. Also lass Dich nicht einschüchtern, Du hast schließlich wirklich Schmerzen!

Womit muss Du bei einer Spiegelung rechnen? Du musst nüchtern – also mit leerem Magen – zur Untersuchung kommen. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wird Dein Rachen mit einem Spray betäubt oder Du bekommst zusätzlich Valium gespritzt, was Du den ganzen Tag spüren wirst. Ohne Valium wird die Prozedur (Schlauch schlucken) zwar schmerzhafter, allerdings empfindet das jeder unterschiedlich. Sollte es Dir schon besser gehen und brauchst Du keine weitere Krankschreibung, brauchst Du das alles nicht über Dich ergehen zu lassen.

Woran denkt sie?

Bei den von Dir beschriebenen Beschwerden wird erstmal an eine Magenschleimhautentzündung gedacht, weil die sehr häufig auftritt. Diese Diagnose kann gestellt werden ohne größere Untersuchung. Sprichst Du von sich wiederholenden Schmerzen, muss Dein Körper auf ein Magen- oder Zwölffingerdarmgeschwür abgecheckt werden. Du wirst sicher erstmal für eine Woche krankgeschrieben, in der Hoffnung das sich Dein Magen etwas erholt.

Therapie? Zuerst bekommst Du ein paar Tabletten und die Empfehlung, Dich mal so richtig auszuruhen. Essen sollst Du nur leicht Verdauliches. Später kommt dann eventuell die Spiegelung.

*** Durchfall, Erbrechen, »Darmgrippe« ***

Wie lange? Ca. eine Woche bis zehn Tage.

Wer wird krank? Jede(r) kann mal davon getroffen werden. Wie das blühende Leben sieht man dann nicht gerade aus – eher mit fahler Blässe.

Beschwerden? Du hast seit kurzem Durchfall, der sehr flüssig oder wie dünner Brei ist. Die Farbe ist weiß-gelblich oder auch grünlich. Zum Teil lassen sich auch Blut- oder Schleimbeimengungen feststellen. Letzteres würde dann für eine schwere Darmerkrankung sprechen (unangenehme Untersuchungen sind dann nicht auszuschließen). Ansonsten ist Dir kotzübel, Du musstest auch schon erbrechen. Du hast krampfartige Schmerzen im Oberbauch, eventuell etwas mehr zur rechten Seite hin, Dein gesamter Bauch ist äußerst druckempfindlich, an Essen kannst Du überhaupt nicht denken, da wird Dir sofort übel. Du fühlst Dich sehr schwach auf den Beinen, hast das Gefühl, nur im Bett liegen zu können, um Ruhe zu haben. Vielleicht hattest Du sogar leichte Temperatur.

Was macht die Ärztin? Du wirst gefragt, wann die Beschweren aufgetreten sind.

*Das kann nach einem ausgiebigen Essen passiert sein. Dann hast Du Dir wahrscheinlich schlicht den Magen verdorben und bist in drei bis vier Tagen wieder gesund.

Durchfall/Erbrechen sind ganz plötzlich aufgetreten. Du kannst Dir selbst nicht erklären, woher das kommt. Das weist dann eher auf eine Infektion hin (bakteriell oder Viren-, Pilzinfektion). Möglicherweise hast Du verdorbene Speisen gegessen.

Dir geht es schon eine ganze Weile nicht so gut. Du hattest viel Ärger auf der Arbeit oder zu Hause. Dann handelt es sich eher um ein psychosomatisches Problem.

Dein Bauch wird abgetastet werden, was mit Schmerzen verbunden sein wird. Den genauen Ort der Schmerzen kannst Du nicht bestimmen. Dein gesamter Oberbauch tut weh, wenn jemand darauf rumdrückt. Extrem starke Schmerzen sind nicht zu empfehlen. Das könnte schon eine gefährliche Erkrankung sein!

Eventuell wird die Ärztin mit einem Hörrohr Deine Darmgeräusche abhören. Bei Durchfall grummelt es Dir stark in Deinem Darm, wie, wenn man viel Tee oder Kaffee getrunken hat.

Sicherlich wirst Du einige Tage krankgeschrieben werden. Sollte die Geschichte länger andauern, muss Du bestimmt eine Stuhlprobe abliefern. Die wird Dich stark an den Stuhl nach Einnahme von Abführmitteln erinnern. Deine Ärztin wird Dich allerdings nicht länger als zehn Tage krankschreiben.

Therapie? Medikamente. Du muss selbst wissen, wie Du zu Chemie-Zeugs stehst! Sicherlich wird Dir auch eine Diät angeraten.

Warnung! Die Symptome müssen wirklich sehr genau beschrieben werden. Ansonsten kann es passieren, dass Du Dich im Krankenhaus mit Verdacht auf Blinddarmentzündung wiederfindest!

*** Sehnenscheidenentzündung ***

Wie lange? Krankschreibung ist zwei bis vier Wochen, in schweren Fällen bis zu 16 Wochen möglich.

Wer wird krank? Leute, die in Beruf oder Freizeit immer die selben andauernden, gleichförmigen Bewegungen mit den Händen oder Fingern machen. Sie ist z.B. eine anerkannte Berufskrankheit bei SekretärInnen, tritt aber auch bei feinmechanischen Arbeiten, besonders am Fließband, durch Schraubenanziehen, wenn Du ein Regal baust oder durch das Tragen von Lasten auf. Bei Anspannung oder Beugen der Finger merkst Du einen ziehenden Schmerz auf der Innenseite des Unterarms, meist kurz oberhalb des Handgelenks.

Beschwerden? Bei fast jeder Bewegung der Finger, besonders bei Beugung und Anspannung und besonders der ersten drei Finger, merkst Du einen deutlichen bis heftigen Schmerz, der manchmal auch bei Entspannung bleibt, vor allem auf der Innenseite des Unterarms, kurz oberhalb der Handgelenke. Ganz selten gibt es bei Bewegung der Finger ein kaum hörbares oder tastbares Knarren an der Stelle des Unterarms, an der der Schmerz sitzt. Sehnenscheidenentzündungen kommen immer wieder mal vor und bessern sich nur sehr langsam.

Was macht die Ärztin? Du wirst aufgefordert, den Schmerz zu beschreiben und Deine Finger zu bewegen. Dabei wird der Schmerz wieder auftreten. Vielleicht sucht der Arzt, an der Stelle, wo der Schmerz sitzt, eine Hautrötung. Diese kommt aber nur selten vor. Eventuell wird ein Röntgenbild erstellt oder eine Blutuntersuchung vorgenommen. Beides ist unschädlich, gibt aber selten Aufschluss. Im Prinzip muss dem Arzt Deine Beschreibung ausreichen, um Dich krankzuschreiben. Ganz misstrauisch Ärzte üben sich ganz gerne in Erschreckspielchen, um zu testen, ob Du auch bei ruckhaften Bewegungen noch Schmerzen hast. lass Dich also nicht verarschen. Selbstverständlich treten die Schmerzen bei jeder Bewegung auf.

Therapie? Ruhigstellen der Hand und des Unterarms mit einer elastischen Binde, einer Gipsschiene oder evtl. mit einem Zinkleimverband. Wenn der Verband die Situation verschlimmert, solltest Du ihn lieber abnehmen. Vielleicht bekommst Du noch eine entzündungshemmende Salbe.

Warnung! Viele Leute reagieren auf Gipsverbände allergisch. Solltest Du früher schon einmal Ausschlag unter Deinem Gips bekommen haben, sage dass Deinem Arzt und verlange einen anderen Verband. Auch auf Spritzen gibt es verschiedene Reaktionen (Allergie, Ohnmacht, Übelkeit).

Gute Besserung.

s.n.




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Farewell Welfare


1.

Arbeitsamt Höchst, 1. Stock, Vermittlungsstelle.

Sachbearbeiterin: Guten Tag, Herr Henkel, schön, dass Sie gekommen sind.

Ich: Blieb mir ja nichts anderes übrig. Ansonsten hätten Sie doch meine Arbeitslosenhilfe gesperrt.

SB: Genau darüber wollte ich mit Ihnen reden. Haben Sie sich denn in letzter Zeit tatkräftig um eine neue Anstellung bemüht?

Ich: Schon.

SB: Was heißt »schon«?

Ich: Ich habe alles gegeben.

SB: Aha. Haben Sie eine abgeschlossene Ausbildung? Verfügen Sie über besondere Spezifikationen?

Ich: Schon.

SB: Könnten Sie das bitte konkretisieren!

Ich: Ich kann kochen.

SB: Sie sind also Koch?

Ich: Genau

SB: Wo liegt Ihr Schwerpunkt? Restaurant- oder Hotelgastronomie? Großküchen?

Ich: Ich habe mich auf antiallergene ostasiatische vegetarische Rohkostzubereitung spezialisiert.

SB: Ich verstehe. Ich habe mir das notiert. Sobald eine Stelle frei wird, hören Sie von uns.


2.

Ca. ein Jahr später. Ein Brief trifft ein. Er beinhaltet die Aufforderung, mich im Bratwurstrondell an der Hauptwache zu bewerben. Brief zurück: »Es ist mir aus religiösen Prinzipien nicht gestattet, Fleischprodukte zu verarbeiten oder in Umlauf zu bringen.« Ca. ein halbes Jahr Ruhe. Dann trifft der zweite Brief ein. Aufforderung mich im Steakhouse Chicago Meatpacker zu bewerben. Religiöse Motivation sei kein Hinderungsgrund eine angebotene Stelle auszuschlagen.


3.

Chicago Meatpacker, Untermainanlage, Frankfurt. Ich erscheine unrasiert im Hó Chí Min T-Shirt und torkle Richtung Theke.

Barkeeper: Guten Tag. Wir öffnen erst in einer Stunde.

Ich: Ach so. Ich habe einen Termin bei eurem Boss.

Barkeeper: Wie bitte? Meinen Sie den Geschäftsführer?

Ich: Ja, beim Chief. Macht nichts. Dann hätte ich gern ein Bier und warte einfach.

Barkeeper: Darf ich fragen, worum es sich handelt?

Ich: Ich bin wegen der Kochstelle da. Ich meine, wegen der Stelle als Cook.

Barkeeper: Tut mir leid, die ist bereits vergeben.

Ich: Na dann. Tschüss.


4.

Drei Monate später. Nächster Brief. Aufforderung zur Bewerbung in der Kantine der Postzweigstelle auf dem Frankfurter Flughafen. Ich werde vom Chefkoch im blutigen Kittel empfangen.

Chefkoch: Guten Tag, Herr Henkel.

Ich: Hallo.

Chefkoch: Also ich erzähl mal ein bisschen. Bei uns wird in Schichten gearbeitet. Wir suchen jemanden für die Nachtschicht. Die geht von 23:00 bis 8:00 morgens; und das Ganze sechs Tage die Woche. Wenn Sie kein Auto haben, können Sie sich mit den Kollegen absprechen oder mit der S-Bahn fahren. Das ist eine ausgezeichnete Verkehrsanbindung hier am Flughafen. Der Lohn beträgt in der Probezeit 14 DM Netto die Stunde.

Ich: Wird hier Fleisch serviert?

Chefkoch: Ja sicher, die Jungs von der Post brauchen ja Muckis in die Arme.

Ich: Das ist ein Problem. Ich habe nämlich `ne Fleischallergie

Chefkoch: Ja, Buletten müssen Sie schon klopfen.

Ich: Da lauf ich rot an und kriege keine Luft mehr.

Chefkoch: Na so etwas. Das tut mir leid; das habe ich ja noch nie gehört. Aber meine Frau ist auch gegen alles mögliche allergisch. Gute Besserung. Auf Wiedersehen.

Ich: Tschüss


5.

Zwei Monate später. Brief, mit der Aufforderung mich in einer Zeiss Metzgerei in Bockenheim zu bewerben, trifft ein. Mittlerweile trage ich einen verfilzten Vollbart. Ansonsten leger gekleidet. Ein zerlöcherter Wintermantel und ein wenig Hundescheiße am Schuh.

Verkäuferin: Was darf’s sein?

Ich: Ich würde ja mal gerne den Marktleiter sprechen.

Verkäuferin: Geht es um eine Beschwerde?

Ich: Nein, um eine Bewerbung.

[Marktleiter wird vorgewarnt]

Marktleiter: Sie sind wegen der Stelle gekommen?

Ich: Genau. Is die noch da?

Marktleiter: Ja, aber ich fürchte wir können Sie so nicht einstellen.

Ich: Wieso das denn?

Marktleiter: Wir legen Wert auf ein gepflegtes Äußeres.

Ich.: Das trifft sich doch gut. Ich auch.

Marktleiter: Sie, ääh, hmm, entsprechen leider nicht dem Bild eines idealen Verkäufers.

Ich: Ich bin aber voll hygienisch.

Marktleiter: Es tut mir leid, aber da ist nichts zu machen.

Ich: Na, wenn sie meinen. Tschüss.


6.

Drei Wochen später. Brief, mit der Aufforderung an einer Fortbildungsmaßnahme des Arbeitsamtes teilzunehmen, trifft ein. Das Motto: »Wie bewerbe ich mich richtig«. Bei Nichterscheinen wird eine Sperre angedroht.

8:00 morgens, Seminarraum des Arbeitsamtes Höchst. Außer mir sind noch ungefähr 15 andere Menschen anwesend. Hinter einem Overheadprojektor verschanzt sitzt meine Sachbearbeiterin. Sie schiebt eine Folie hin und her. An der gegenüberliegenden Wand erscheinen die Worte: Flexibilität, Eigenverantwortung und Disziplin. Ich bin beeindruckt, weiß aber nicht, was ich hier noch lernen soll. Mein Bewerbungsverhalten kommt mir ziemlich eigenverantwortlich vor. Und an Flexibilität hat es ja eher die andere Seite mangeln lassen. Aber vielleicht die Disziplin…? Ich beschließe mein neu erworbenes Wissen gleich noch einmal anzuwenden und schreibe eine makellose Bewerbung.

Seitdem bin ich Student.

diego




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Bewerbungsmanager

Du stehst mit dem Rücken an der Wand? Das Arbeitsamt nötigt Dich zu Bewerbungen für blödsinnige Jobs? Zusätzlich droht man, Dir die staatlichen Leistungen zu entziehen? ABM war noch nie das, was Du schon immer mal machen wolltest?

Nur, wie schaffst Du es, Dich zu bewerben und trotzdem nicht genommen zu werden?

Das ist gar nicht so schwer.

Das Bewerbungsschreiben

Alles beginnt mit dem verdammten Bewerbungsschreiben. Ehrlich währt am längsten – also pack die Karten auf den Tisch: Von dem Job, für den Du Dich bewirbst, hast Du leider gar keine Ahnung, Deine Motivation ist dementsprechend auch nicht besonders groß. Schon in Deinem vorherigen Job hast Du oft gefehlt. Du bist eben gesundheitlich eher labil. Im Aneignen neuer Fähigkeiten warst Du noch nie besonders gut. Deine Auffassungsgabe lässt sehr zu wünschen übrig, auch wenn Du Dich selbstverständlich immer sehr bemüht hast. Am besten teilst Du auch gleich mit, dass Du demnächst unbedingt Urlaub nehmen willst (Goldene Hochzeit, Familienfeier im Ausland o.ä.). Wenn Du noch im entsprechenden Alter bist, kannst Du auch mit Deinem Kinderwunsch prahlen, den Du in absehbarer Zeit zu erfüllen gedenkst.

Wenn Du’s drauf anlegen willst, kannst Du auch schreiben, dass Du Dich bewirbst, weil Dich das Arbeitsamt dazu zwingt. Davon sollte das Amt allerdings nichts mitbekommen. Schließlich hast Du Dich ehrlich um Arbeit bemüht.

Rein formal empfiehlt es sich, sämtliche Patzer einzubauen, die in jedem Buch mit Tipps zur erfolgreichen Bewerbung unter der Rubrik »auf gar keinen Fall machen« stehen. Überhaupt ist so ein Buch sehr lehrreich, liest man es aus der Sicht des Bewerbungssaboteurs.

Besonders unerwünscht sind handschriftliche Bewerbungen, die zudem schnell mal hingerotzt wurden – Ausdruck, Orthographie und Grammatik nur vom Feinsten! Vielleicht verwendest Du hin und wieder ein Fremdwort, das da nun wirklich nicht hinpasst. Besonders schön wird das Anschreiben, wenn man hier und dort noch ein wenig rumkleckst und den Tacker ausgiebig einsetzt. Um an solche Bewerbungsschreiben nicht unnötig Papier zu verschwenden, sollte man einfach einseitig bedrucktes Papier noch einmal durch den Drucker jagen. Schön wäre es natürlich, wenn die Rückseite dann auch ein wenig witzig oder auch besonders geschmacklos ist. Zur Krönung sollte man unbedingt Sondermarken vom DGB (Deutscher Gewerkschaftsbund) draufkleben. So landet Eure Bewerbung mit großer Sicherheit noch vor dem Öffnen im Müll.

Das Gespräch

Weiß das Arbeitsamt, wo Du Dich bewirbst, solltest Du stets betonen, wie gern Du den Job hättest. Im Zeitalter der Personal Service Agenturen ist das noch unausweichlicher als früher bei den ABM-Stellen. Hier muss eher Dein Auftreten »überzeugen«. Vielleicht kommst Du gerade von einer Party, bist ziemlich unausgeschlafen und hast noch ordentlich Alkohol (oder anderes) im Blut. Dementsprechend riechst Du auch. Die Klamotten haben schon lange kein Waschmittel mehr zu Gesicht bekommen. Die Schweißflecken (am besten auch Geruch) sind kaum zu übersehen. Dreck unter den Fingernägeln und ordentlich Schlamm an den Schuhsohlen machen Dich nicht sympathischer. Immer mit dabei: Dein Walk- oder wahlweise auch Discman, den Du natürlich erst ausschaltest, wenn Du so richtig angekommen bist. Auch Unpünktlichkeit wird in diesen Kreisen nicht sehr geschätzt. Natürlich kommst Du nur einige Minuten zu spät und es tut Dir furchtbar leid.

Da Du ein außerordentlich höflicher Mensch bist, bemühst Du Dich, Deinem Gegenüber nahe zu sein, was der andere aber eher als aufdringlich empfindet. Da Du’s mit der Hygiene nicht so hast, juckt Dir von Zeit zu Zeit der Kopf, der Rücken, Hintern usw. Da muss man natürlich etwas gegen tun.

Die flegelhaftere Variante: Leg die Füße gleich irgendwo hoch. Erzähle den ein oder anderen Witz oder erlaube Dir ein paar Späßchen mit dem Chef. Auch Nase geräuschvoll hochziehen kann zum echten Renner werden. Wenn Dich der Hunger plagt, solltest Du Dich nicht unnötigen Qualen aussetzen. Pack ruhig die Stullen

büchse aus und gieß Dir einen Schluck Kaffee aus Deiner Thermoskanne ein.

Das Ganze darf natürlich nicht zu offensichtlich nach Sabotage aussehen. Das könnte Dir eine Sperrzeit einbringen, und dann ist das Geld erst mal flöten.

Auch beim Gespräch solltest Du Dich unbedingt noch mal nach der Urlaubsregelung erkundigen. Frage ruhig auch nach, wie sie es so mit ArbeitnehmerInnenrechten halten. Auf die Art machst Du gleich



deutlich, dass mit Dir auch in Zukunft nicht gut Kirschen essen ist.

Die Highlights auf einen Blick

*** DGB-Sonderbriefmarken

*** Bewerbungsgespräch im Rausch à la

Trainspotting

*** ein kreativ bis wild zusammengetackertes Bewerbungsschreiben

*** Schweißflecken wie nach einem Boxkampf

*** mit schlammbehafteten Schuhen den



Teppich des Chefs in spe mal so richtig einsauen

*** Aufdringlichkeit, gepaart mit Unsauberkeit

*** Jucken, jucken, jucken

*** Urlaubsankündigung noch vor der Job-

Zusage bringen5

*** Kaffee- und andere Flecken auf dem

Bewerbungsbrief

*** Unpünktlichkeit

anonyma.sabotant




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»Hallo Partner!«

Man hat das Arbeitsamt nicht zu mögen, heißt es. Von da komme nichts Gutes, es sei eine Gängelbehörde. Ich aber habe schon bei meinem zweiten Besuch auf dem Arbeitsamt Glück gefunden. Vielleicht auch nur deshalb, weil das Arbeitsamt sich ja gerade entbehördisiert und schon bald eine Serviceagentur sein wird. Mein Partner in schwierigen

Lebensphasen. Und bei Partnern, das kennt man aus anderen Lebensbereichen, kann man sein Glück finden. Das geht. Zumindest immer wieder mal.

Noch auf dem Weg zu meinem designierten Partner habe ich mich in Form gebracht. Die gebotene innere Haltung angenommen: Hey Du, mein Ex-Amt, mein Agentur-Partner, komm mir bloß nicht dumm. Denn statt Lover bist du mein Versicherer. Ich erwarte weder Liebe noch Agenturscheiß, sondern Kohle. Meine Grundgesetzkohle, die du mir peu a peu aus der Tasche gezogen hast.

So was in der Art habe ich mir gesagt. Zugegebenermaßen hat mir das Ex-Amt noch gar nicht allzu viel aus der Tasche gezogen. Vadder und Mudder aber haben eingezahlt,

monatlich und jahrzehntelang. Und die ha-ben nie was zurückbekommen, weil das

damals im Fordismus nur selten nötig war und meinem Vadder-Mudder-Komplex ja auch schrecklich peinlich gewesen wäre. Das war zwar dumm, hat aber zur Folge, dass unser Familienkonto bei meinem neuen Partner prall gefüllt sein müsste. Und ich bin gekommen, um mir meinen Teil zu holen.

Erst aber muss ich warten. Irgendwo oben, in der Abteilung für lohnlose Akademiker. Netterweise stellt mein Agenturpartner kostenloses Lesematerial zur Verfügung. Zum Beispiel das Stellenangebot-Blättchen »Markt & Chance«, was irgendwie nach Max Weber klingt. Ich checke die Auswahl unter der Rubrik »Geistes- und Sozialwissenschaft/Recht«, wo meine Partner dieser Ex-Amts-Republik sechs offene Stellen zusammengekratzt haben. Ich will aber weder pädagogischer Leiter, noch Sport- und schon gar nicht Fahrlehrer werden. Ich will Geld. Auch unter der Rubrik Gastronomie wird was geboten: auf Langeoog suchen sie für sechs Monate ein Zimmermädchen

Querstrich Room Boy Querstrich mit Deutschkenntnissen. Oder lieber gleich ganz ins Ausland, wo mehr als die Hälfte des Markts und somit meine Chancen liegen? So könnte ich als chemischer Ausbilder nach Indien gehen, als Kranführer nach Uganda, als Farmhelfer nach Island, als Uhrmacher in die Schweiz oder als Spengler nach Italien. Das klingt verlockend. Was aber macht ein Spengler?

Ich wechsle die Lektüre und blättere im »JobProfi«. Nicht umsonst, denn so lerne ich, dass »Kündigungszeiträume zu Aktionszeiträumen« werden müssen. Denn eines steht fest: »Eines steht fest: auf dem Arbeitsmarkt gewinnen die Aktiven.« Aber nur, behauptet ein anderer Artikel, wenn sie gut aussehen: »Neben den Qualifikationen zählen auch die Äußerlichkeiten. Gutes Aussehen macht sicherer und selbstbewusster.« Unter der Überschrift »Das Hier und Jetzt« (was wiederum verdächtig nach Heidegger klingt) lautet die Anweisung: »Schließen Sie das Vergangene ab und machen Sie sich frei für neue Ziele.« Gerne, mein Partner, für dich tue ich alles. Meine innere Strenge weicht dahin. Ich atme tief ein und werde frei. Doppelt frei.

Irgendwann schaue ich mal wieder auf und stelle fest: ich sitze alleine auf diesem trüben Gang. Ob die anderen 4.344.255 schon zum Bewerbungsgespräch nach Langeoog unterwegs sind? Angst steigt auf und ich will

gerade gehen, als ich hereingerufen werde. Mein Partner ist fast 60 und statt Service-

lächeln trägt er Strickweste. Als wären wir hier auf einem Amt. »Ich will mein Geld abholen«, sollte ich sagen. »Ich will mich arbeitslos

melden«, sage ich. Mist, hat mich mein Partner etwa schon eingelullt?

Die Strickjacke schiebt mir ein Formular über den Tisch – so schnell also werden Kündigungszeiträume zu Aktionszeiträumen. Ich stolpere über Frage 15: »Sind Sie bereit, alles mögliche dafür zu tun, eine neue Beschäftigung zu finden? Ja/Nein«. Nun, was soll man da sagen? Kann ich bei einem Ja zwangsverpflichtet werden, mich als Spengler in Italien zu verdingen? In Partnerschaften ist Ehrlichkeit wichtig. Deshalb frage ich, was es mit der Frage auf sich hat. »Wenn Sie Nein ankreuzen, bekommen Sie kein Geld«, sagt die Strick-weste und lächelt dabei nicht mal. Ich zögere, dann kreuze ich auch auf das Spengler-Risiko hin Ja an. Zur Not kann ich mich ja auch

wieder von meinem Partner trennen. Dabei fällt mir mein Freund ein (nein, nur ein Freund, nicht mein Partner), der sich so oft bei seinem Partner an-, ab- und umgemeldet hat, bis er schließlich nie mehr etwas von ihm gehört hat – nur die Kohle kam immer punktgenau.

Am Ende dieses ersten Dates verlasse ich

meinen Partner mit »Markt & Chance« in der Tasche und mulmigem Gefühl im Bauch. Ich will nicht Spengler werden müssen. Doch kurz vor der Treppe nach unten fällt mein Blick auf einen Aushang, einen kopierten weißen Zettel. Mein Partner hat den nicht aufgehängt, soviel ist klar. Vielleicht war’s Nummer 4.212.382. Egal. Jedenfalls steht eine Frage drauf: »Suchen Sie Glück?« Darunter kleine Zettelchen zum Abreißen. Und auf jedem steht: »GLÜCK«. So habe ich nicht nur begonnen, mir meine Kohle zurückzuholen, sondern auch noch Glück gefunden. »Glück & Kohle« – das wäre mal ein Name für eine Zeitschrift.

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»I´m a Pretender.«

Was tun bei ungewollten GZA-Maßnahmen? [GZA steht für »gemeinnützige zusätzliche Arbeit« nach §19 BSHG. Durch dieses Paragraphen können Kommunen und andere öffentlichen Einrichtungen SozialhilfeempfängerInnen zu Arbeitsleistungen verpflichten.]

Wenn Dir das Amt etwas gegen Deinen Willen aufdrücken will, muss quasi zwangsläufig eine gute Ausrede her. Besonders gut erprobt sind »Ausredenkataloge« zum Beispiel im Rahmen der Musterungsverweigerung. Die Schwierigkeit, »Ausrendenkataloge« für die Verweigerung einer GZA-Maßnahme zu erstellen, besteht darin, dass in diesem speziellen Fall die Geduld der Behörden noch nicht ausreichend auf die Probe gestellt wurde. Die Urlaubsnummer fällt schon mal ganz flach. Als SozialhilfeempfängerIn hat man keinen Anspruch auf lange Urlaube. Die Arbeitskraft (und mehr bist Du einfach nicht) muss ständig zur Verfügung stehen. Generell besteht natürlich die Gefahr, dass das Ganze auffliegt und die Sozialhilfe dann erst einmal gekürzt bzw. später dann gestrichen wird. Auch hier gibt es bisher zu wenig Erkenntnisse, wie Ämter auf so etwas reagieren. Dennoch sollen hier einige Tipps gegeben werden, die allerdings mit Vorsicht zu genießen sind.

1. Plötzliche Erkrankung

Da der Brief mit der »Einberufung« zu der jeweiligen GZA-Maßnahme einige Tage vor Beginn der Maßnahme bei Euch eingeht, ist eine Erkrankung genau in dem Zeitraum gar nicht besonders abwegig. Natürlich müsst Ihr ein ärztliches Attest einholen. Unwahrscheinlich ist, dass Ihr dafür zu einer Ärztin gehen müsst, die Euer Sozialamt bestimmt. Eine nette Ärztin Eurer Wahl lässt sich bestimmt finden, die Euch schwere Migräne, Sehnenscheidenentzündung (besonders gut bei schwerer körperlicher Arbeit) oder eine Magen-Darm-Grippe bescheinigt.

2. Unaufschiebbarer Arzttermin

Hier wird’s schon schwieriger. Sicherlich kann auch ein solcher Termin Grund für ein Fehlen sein. Allerdings fehlt Ihr dann nur mal für maximal einen Tag. Dass der Termin wirklich nicht zu verschieben ist, muss auch belegbar sein. Denkbar wäre eine Spezialistin, bei der man nur sehr schwer einen Termin bekommt. Nicht ganz einfach dürfte es sein, dafür einen Beleg zu bekommen.

3. Wichtige Familienangelegenheit

Das Sozialamt muss Euch bei bestimmten Anlässen beurlauben. Solch ein Anlass kann zum Beispiel die Goldene Hochzeit, eine Trauerfeier oder eine Kindstaufe – meist allerdings nur bei Verwandten ersten Grades – sein. Vorlegen muss man dafür nur eine Einladung. Es fällt natürlich auf, wenn bei Euch ständig Hochzeiten gefeiert werden. Eventuell kann man bei weiter entfernten Feierlichkeiten sogar mehrere Tage frei bekommen.

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»Neue Ökonomische Politik«

Im Juni 2002 verurteilte das Amtsgericht Berlin den Personalchef eines Callcenters zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 70 Euro. Der Callcenter Manager hatte sich der »Behinderung der Gründung eines Betriebsrates« schuldig gemacht, indem er im Januar 2001 einem kurz zuvor entlassenen Angestellten den Zutritt zur Betriebsversammlung verweigert hatte, obwohl dessen Kündigung noch nicht rechtswirksam war. Doch auch ohne die Anwesenheit jenes Rädelführes gelang es, gegen den anfänglichen Widerstand der Geschäftsführung, einen Betriebsrat durchzusetzen. Ein großartiger, ein doppelter Sieg der Arbeiterinnenklasse also, im Kampf gegen die Herrschaft des Kapitals?

Ende 2000 hatte das Callcenter zwischen 150 und 200 Angestellte, die meisten von ihnen studentische Beschäftigte. Als sich die Auftragslage verschlechterte, kam es zu einer Kündigungswelle, die das Verhältnis von Angestellten und Geschäftsleitung deutlich verschlechterte. Einige Telefonistinnen hatten wenig Verständnis dafür, dass ihr Betrieb sie nun entlassen musste und schickten sich an, einen Betriebsrat zu gründen. Die Geschäftsleitung reagierte nervös. In Ansprachen und persönlichen Gesprächen wurde deutlich gemacht, dass sie einen Betriebsrat weder für nötig noch wünschenswert halte und alles daran setze, ihn zu verhindern. Eine Gründung gegen den Willen der Geschäftsleitung zöge Nachteile für alle Beschäftigten nach sich. Vor allem eine Verschlechterung des Betriebsklimas wurde befürchtet. Die »flache Hierarchie« könne verloren gehen, wenn sich zwischen Angestellte und Geschäftsführung eine dritte Instanz dränge. Überhaupt sei ein Betriebsrat nicht »zeitgemäß«.

Der Geschäftsführer verdächtigte außerdem die Gewerkschaften im Bündnis mit linksradikalen Gruppen seinen Betrieb zu einem Pilotprojekt im Kampf gegen die New Economy missbrauchen zu wollen. Betriebsratsmitglieder würden ihre Position dazu missbrauchen, sich einen »lauen Lenz« zu machen. Dabei ginge es den Beschäftigten doch so gut. Der Personalleiter wies mehrfach darauf hin, wie außergewöhnlich es sei, dass Menschen verschiedener »Nationalitäten und sexueller Ausrichtung« ganz selbstverständlich nebeneinander arbeiteten. Das Callcenter sei schließlich ein »linker Betrieb«. Als ehemaliges Mitglied einer linken AStA-Gruppe und ehemaliger Redakteur der sexualpolitischen Zeitschrift Gigi wusste der Personalchef, wovon er sprach.

Da sich aber ein Großteil der Angestellten von den Appellen wenig beeindruckt zeigte, wurden andere Maßnahmen ergriffen. Die Initiatorinnen der Betriebsratsinitiative wurden ausfindig gemacht, zu einem Gespräch geladen und anschließend entlassen. In den folgenden Wochen wurden zwischen 20 und 30 Angestellte mit teilweise recht fantasievollen Begründungen gekündigt, so dass zur Betriebsversammlung eine deutlich ausgedünnte Belegschaft erschien. Während im Gegensatz zu einer gesetzmäßigen Betriebsversammlung auch Mitglieder der Geschäftsführung anwesend waren, wurden die zuvor Gekündigten an der Teilnahme gehindert. Einer der Ausgesperrten machte seinem Unmut Luft und schlug den Personalleiter auf die Glatze. Dies war zwar sicherlich was viele Angestellte im Sinn gehabt hatten, aber nicht unbedingt im Sinne der Angestellten. Die Geschäftsleitung trug nun ihre Version von der Unterwanderung linksradikaler Gruppierungen umso vehementer vor und schaltete den Staatsschutz ein. In den Monaten bis zur Betriebsratswahl entließ die Geschäftsführung eine Reihe von Mitarbeiterinnen und stellte neue ein. Außerdem konnte ein verstärktes Interesse an der Meinung der Betriebsangehörigen registriert werden. Wegen geringfügiger Übertretungen wurden Abmahnungen und Verwarnungen ausgesprochen. In persönlichen Gesprächen wurde erforscht, ob sich die Beschäftigte im Betrieb »wohlfühle« und ob sie Verständnis für die Notwendigkeit der Abmahnung habe. Mit viel Einfühlungsvermögen wurde probiert, die Mitarbeiterinnen zur Einsicht zu bewegen, um zukünftiges Fehlverhalten zu vermeiden. Außerdem fanden eine Reihe von »Schulungsmaßnahmen« unter Leitung des Personalleiters statt, in denen neben »Gesprächsführung« und »Belastbarkeit« auch »Einfühlsamkeit« und »Teamarbeit« benotet wurden. Bis zur Betriebsratswahl verließ ein großer Teil der alten Belegschaft den Betrieb, während der Rest es offenbar passender fand, Kritik an der Firma zumindest nicht innerhalb der Firma zu äußern. Die meisten Gekündigten einigten sich auf Abfindungen, sofern sie rechtzeitig geklagt hatten. Nur ein Mitarbeiter klagte sich zurück. Er wurde so gut wie möglich abgeschottet, erhielt separate Pausenzeiten und möglichst stupide Arbeiten, die 1:1 geprüft wurden. Währenddessen wurden mehrere der Betriebsleitung freundlich gesinnte Listen gegründet, deren Kandidatinnen das innerbetriebliche Netzwerk zum Wahlkampf nutzten. Insbesondere die »Anti-Haltung« der ursprünglichen Initiatorinnen der Betriebsratsinitiative war Gegenstand scharfer Kritik. Dass hier nicht immer sauber zwischen persönlicher und sachlicher Ebene getrennt werden konnte, versteht sich von selbst. Letztendlich wurde ein Betriebsrat gewählt der aus drei »Teamleitern« und zwei kritischeren Kandidaten bestand. Einer der Letzteren wurde in den Folgewochen dazu bewegt, den Betrieb zu verlassen, wobei ihm der Abgang durch Zahlung von 900 DM versüßt worden sein soll. Es wird nicht weiter verwundern, dass der neugewählte Betriebsrat hervorragend mit der Geschäftsleitung kooperierte, keine Einwände gegen Kündigungen hatte und selbstverständlich auch keine gewerkschaftlichen Schulungen besuchte, sondern sich auf das »Selbststudium« beschränkte.

Dieses Beispiel innerbetrieblicher Demokratie macht vielleicht verständlich, warum Bundesregierung und Unternehmerverbände den Betriebsräten gern mehr Mitspracherechte zugestehen wollen. Im Umsetzungsfahrplan Agenda 2010 wird unter der Überschrift »Arbeitsrecht beschäftigungsfördernd erneuern« vorgeschlagen, die gerichtliche Überprüfung der Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen zu beschränken und zwar »bei Vorliegen einer zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat – im Rahmen eines Interessenausgleich – vereinbarten Namensliste.« (Sozialauswahl bedeutet, dass bei betriebsbedingten Kündigungen die persönlichen Umstände des jeweiligen Arbeitsnehmers gewürdigt werden. Also z.B. Alter, Kinder, Behinderung.)

Mehr Demokratie wagen also! So sieht es auch der Unternehmerverband, der allerdings bemängelt, dass Betriebe ohne Arbeitnehmerinnenvertretung von dieser Regelung ausgenommen sind: »Insoweit werden Mitwirkungsmöglichkeiten der Belegschaft beschnitten und ein Stück Demokratie im Betrieb zurückgenommen«.

Jakob Müller