Queering Sozialstaat

Über Sexualitaet im Arbeitsprozess, über Ich-AG´en und queere Kritik



Einige der Schuftigkeiten, die seit zwei Jahren unter dem Namen »Hartz-Konzept« öffentlich verhandelt und seit über einem Jahr auch bereits in Gesetzesvorhaben umgesetzt werden, [1] sind bereits bekannt. Diese Reform des Arbeitsmarktes wurde und wird vielfach kritisiert – unberücksichtigt dabei bleiben jedoch oft Annahmen über und Auswirkungen auf Lebensweise und Sexualität. [2] Nehmen wir die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf dem Niveau der letzteren: Nach dieser Neuregelung kann der Freibetrag für die Anrechnung des PartnerInnen-Einkommens bis unter das steuerliche Existenzminimum fallen. Wenn also das Einkommen von Partner oder Partnerin eher niedrig ist, verbleibt beiden nicht einmal das zu einer eigenständigen Lebensführung notwendige. Es ist wohl klar, was das in der Dynamik einer Partnerschaft bedeuten kann. Ein weiterer Punkt ist die Ausweitung der geförderten Existenzgründungsmöglichkeiten von der so genannten Ich-AG zur Familien-AG. Bei Gründung einer Ich-AG erhält Geld, wer sich selbstständig macht, ohne weitere Arbeitskräfte zu beschäftigen. Jetzt ist es aber möglich, auch so genannte »mitarbeitende Familienangehörige« zu beschäftigen. Das ist eine Proberegelung für drei Jahre und wir könnten jetzt Wetten abschließen, was nach diesen drei Jahren eine Statistik ergeben wird: Ob es wohl mehr Männer sind, die ihre Ehefrauen anstellen, oder Frauen, die ihre Ehemänner beschäftigen?

Worin liegen die Ursachen für die geradezu traditionalistisch anmutende heteronormative Struktur von Reformen, die sich doch so modern geben? Und sind sie wirklich so traditionell strukturiert oder haben sie sich vielleicht gewandelt? Wie hängen Ökonomie und Sexualität und Arbeit und Geschlecht miteinander zusammen? Für die Queer Theory ist ein Nachdenken über die Politische Ökonomie ja nicht eben typisch. Suchen wir uns also zunächst Begriffe und ein Theorieraster, mit dem die Verbindungen zwischen Verwertung und Sexualität sichtbar werden.


Verwertung und Selbst-Verwertung

Der Begriff »Verwertung« geht, so wie ich ihn hier verwende, zurück auf Marx. Er beschreibt nicht, dass alles und jedes seinen Preis hat und wir in einer Gesellschaft von Wucherern und Wegelagerern leben, die sich gegenseitig abkassieren (wobei die einen mehr kassieren und die anderen weniger). Dieser Eindruck ist nur ein sekundärer Effekt. Vielmehr bezeichnet »Verwertung« die Grundstruktur der kapitalistischen Produktion: Jeder einzelne Produktionsprozess kommt zu Stande, indem eine bestimmte Menge Geld zu Kapital wird – also eingesetzt wird, um davon eine bestimmte Menge »Zutaten« zu bezahlen (Rohstoffe, Maschinen, Fabrikhallen etc.) und eine bestimmte Menge an Arbeitskraft zu kaufen. Die Arbeitskraft hat die Eigenschaft, mehr Wert zu produzieren, als sie kostet. Nach Verkauf der Waren ist also mehr Geld da, als vorher in den Produktionsprozess hineingesteckt wurde – und genau das ist der Zweck, dem der ganze Prozess folgt. Das Kapital setzt einen Prozess in Gang und beherrscht ihn, in dem es sich selbst vermehrt; es ist der sich selbst verwertende Wert.

Ich möchte keine Verwirrung stiften, aber den Begriff »Selbst-Verwertung« benutze ich hier auf einer anderen Ebene, und zwar mit Blick auf die Menschen als Subjekte des Arbeitsprozesses. Um das zu erläutern, muss ich etwas ausholen. Anders als z. B. in der Sklavenhaltergesellschaft, wo die Arbeitskräfte persönliches Eigentum ihrer Herren waren, sind die Arbeitskräfte im Kapitalismus persönlich frei. In der Regel gehören ihnen auch die Maschinen und Werkzeuge nicht, mit denen sie arbeiten. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, müssen sie sich daher an jemanden verkaufen, der ihre Arbeitskraft nur kaufen wird, um sich den von ihr produzierten Wert anzueignen. Die Bedingungen dieses Verkaufs hängen ab von politischen und ökonomischen Verhältnissen und er ist juristisch geregelt. Die Arbeitskraft hat aber – und das soll uns im Folgenden genauer interessieren – immer auch eine bestimmte kulturelle Form. Wenn z.B. in der US-Auto-Industrie der 1920er Jahre die Mehrzahl der Arbeitskräfte verheiratete Männer waren und deren Ehefrauen in der Regel kein eigenes Einkommen hatten, sondern die Hausarbeit machten und Kinder aufzogen, dann können wir sagen: Diese Anordnung ist ein politischer Fakt – denn sie impliziert bestimmte Herrschaftsverhältnisse; sie ist ein ökonomischer Fakt – denn sie organisiert eine bestimmte Form der Produktion; sie ist juristisch abgesichert (über Ehe- und Familienrecht, über Betriebsverfassungs- und Streikrecht etc.). Und: Diese ganze Anordnung greift auf bestimmte Muster kultureller Bedeutung zurück und bringt diese Muster auch selbst mit hervor. Es muss z. B. klar sein, was oder wer ein Mann ist – und wer eine Frau; es muss klar sein, wie Männer und Frauen sich selbst sehen, fühlen, begreifen; wie sie von anderen erkannt und verstanden werden; und in welchem Verhältnis sie zu einander und zu sich selbst stehen.

Wir können als ein relativ neues Phänomen beobachten, dass Menschen sich selbst bewusst als ökonomische Subjekte entwerfen. Sie planen ihr Handeln und handeln, um die eigene Persönlichkeit so gut wie möglich zu verkaufen. Nun war es ja schon immer wichtig, einen guten Eindruck zu machen, um eine Stelle zu bekommen. Neu aber ist, dass die Strategien, eine Stelle zu bekommen, zu einem eigenen Wissensgebiet geworden sind. Es gibt eine fast unglaubliche Menge an Ratgeberspalten, Büchern und Fernseh-Berichten mit Tipps und Tricks. Neu ist auch, dass Menschen, die sich beruflich selbständig machen, nicht nur ihr Können, sondern auch ihren Charme, ihre Umgangsformen einsetzen müssen. Während vor 150 Jahren z. B. ein Landarzt oder ein Winkeladvokat als Honoratioren eine relativ feste Position im Sozialgefüge hatten, müssen ÄrztInnen und AnwältInnen heute eigene Verkaufsstrategien entwickeln, müssen überlegen, wie und wo sie Werbung machen, wie sie ihre Wartezimmer einrichten und welches persönliche Profil sie sich geben, oder sie müssen jemanden dafür bezahlen, genau diese Strategien für sie zu entwickeln. Es gibt auch eine ständig wachsende Anzahl von (Schein)Selbstständigen mit sehr geringen Einkommen, für die ebenfalls ein Wissen produziert wird. Für sie erfüllt das Wissen die (ideologische) Funktion, ihre Situation aushaltbar zu machen und die Hoffnung auf eine Verbesserung aufrecht zu erhalten. Mit dem Begriff »Selbst-Verwertung« soll also die ideologische eigene Unterwerfung unter die Verwertungs-logik gemeint sein, die eigene, freiwillige Zurichtung auf den Verwertungszusammenhang.

Um nun zu untersuchen, was Sexualität mit Verwertung und Selbst-Verwertung zu tun hat und wie sie in Arbeitsprozesse eingeht, benötigen wir eine Theorie, die die Geschlechterverhältnisse als Verhältnisse der materiellen und kulturellen Produktion begreifbar macht. »Was wir heute als ›Sexualität‹ begreifen – ein sich ständig veränderndes Ensemble von Praxisformen der Geschlechtlichkeit, der Körper, Sinne, Lüste und Gelüste – gehört zur Produktion des eigenen Lebens, zur Reproduktion der eigenen Arbeitskraft, zur Produktion neuen Lebens und zur Konsumtion.« (Wagenknecht 2001, 811) Diese Theorie soll also »Praxisverhältnisse (mehrere) der Geschlechter fassen und dabei sowohl die Formierung der Akteure als auch die Reproduktion des gesellschaftlichen Ganzen auf dieser Grundlage der Erkenntnis zugänglich machen« (Haug 2001, 762).


Verhältnisse sexueller Arbeit

Um zu untersuchen, wie Geschlecht und Sexualität in den Arbeitsprozess eingehen, haben Boudry, Kuster und Lorenz (1999) den Begriff »sexuelle Arbeit« vorgeschlagen. Sie fassen damit dreierlei: Erstens eine soziale Position »Frau« häufiger als die Position »Mann« mit weniger qualifizierten, schlechter bezahlten, teils überhaupt nicht wahrgenommenen Tätigkeiten verbunden ist. Hierbei geht es nicht nur um die Produktion der Lebensmittel, sondern auch um die Produktion des Lebens – und zwar des eigenen Lebens und neuen Lebens. Sie fassen zweitens die Tatsache, dass in Arbeits-prozesse Emotionen, Fähigkeiten und individuelle Eigenschaften der Person eingehen, die im weiteren Sinne mit Sexualität zu tun haben. Und sie fassen drittens das Wirken einer regulativen Instanz – die Judith Butler »heterosexuelle Matrix« nennt –, welche die Existenz von zwei (und nur zwei) körperlich und sozial polaren, im Begehren aufeinander bezogenen Geschlechtern absichert.

Geschlecht und Sexualität sind Eigenschaften der Arbeitskraft, die sie je speziell vernutzbar machen. Eingespannt in ein Netz sexistischer, rassistischer Herrschaftsverhältnisse wird die gesellschaftliche Arbeitskraft als in sich differente konstituiert. Das heißt, sie wird als Gesamtarbeitskraft von Hierarchielinien durchzogen und ist mit ganz unterschiedlich ausbeutbaren Eigenschaften versehen, die in den Arbeitsprozess eingehen. Teils sichtbar, teils unsichtbar, gehen Geschlecht und Sexualität auch ins hergestellte Produkt ein. Sichtbar etwa, wo das Arbeitsprodukt eine Dienstleistung ist, also eine bestimmte Repräsentation der Arbeitskraft selbst mit umfasst. Fast immer ist dabei geschlechtliche Kohärenz verlangt, oft auch eine Darstellung von Heterosexualität. Wo handwerkliches Geschick nötig ist, wird in der Regel ein Mann erwartet; wo es um Fürsorge geht, eine Frau. Meist schadet es dem Absatz, wenn solche Erwartungen durchkreuzt werden – es kann das Produkt aber auch interessanter machen (z.B. in den Community-Läden der Pink Economy).

Auch die Arbeitsleistung hängt widersprüchlich mit dem Geschlecht zusammen. Im Buch von Boudry, Kuster und Lorenz findet sich ein Text von Doreen Massey, die den Zusammenhang von Männlichkeitskonstruktion und Arbeitsleistung in einem Software-Unternehmen untersucht hat. Die dort tätigen Männer erleben sich in der Arbeit als »ganze Männer«. Gerade deshalb verausgaben sie sich umso stärker und dehnen den Arbeitstag freiwillig aus. Ein Manager berichtet sogar, dass einige dieser Männer zu Pausen regelrecht gezwungen werden müssten. Das hat u. a. zur Folge, dass in ihren heterosexuellen Partnerschaften die Frauen alles allein erledigen, was mit Hausarbeit und Kinderbetreuung zu tun hat. Und es hat selbstverständlich zur Folge, dass das Unternehmen gut an ihnen verdient. Ein anderer Text, von Linda McDowell (1999), untersucht Geschlechteranordnungen in Handelsbanken der Londoner City. Darin wird u. a. die widersprüchliche Situation von »Karrierefrauen« beschrieben, die sich in »Männerberufen« beweisen, indem sie höhere Anforderungen als Männer erfüllen und in einem direkt sexistisch geführten Konkurrenzkampf bestehen müssen, die aber auch durch gezielte Selbstinszenierungen ihres Frau-Seins gewisse Vorteile erringen können.

Diese beiden Beispiele beziehen sich auf hochbezahlte Jobs in Dienstleistungssektoren – aber selbstverständlich gehen Geschlecht und Sexualität nicht nur dort in den Arbeitsprozess ein. Nehmen wir den Film »Billy Elliot – I Will Dance«: Da geht es um einen 12jährigen Jungen aus einer englischen Bergarbeitersiedlung Mitte der 1980 er Jahre, der Balletttänzer werden will. Ich habe diesen Film untersucht und mir v. a. angesehen, wie sich mit dem Aufstieg der neuen Produktionsweise die ideologische Produktion des eigenen Lebens verändert. Eines der Ergebnisse war aber auch, dass die Männlichkeit der streikenden Bergarbeiter unbedingt heterosexuell fundiert ist. »In diesem Kontext hat Homophobie den ›sozialen‹ Sinn, die heterosexuellen Arbeiter als Gruppe von Gleichen zu konstituieren, die gemeinsam politisch und sozial handlungsfähig ist. Zu dieser Konstitution gehören auch die Abwertung von Frauen und darin auf andere, besondere Weise von Lesben« (Wagenknecht 2003) – wobei letzteres in dem Film nicht sichtbar ist. Das mag an Beispielen genügen um zu belegen, dass die heterosexuelle Matrix in Arbeitsverhältnissen immer eine Rolle spielt.


Zwiespältigkeiten bei Hartz und queere Kooperationen

Wenn wir uns all die Vervielfältigungen und Individualisierungen ansehen, die in Bezug auf Geschlecht und Sexualität vor sich gehen, zumal wenn wir uns ihre mediale Repräsentation ansehen, oder wenn wir über sozialpolitische Programme oder die zu erwartenden sozialpolitischen Folgen etwa des Hartz-Konzepts nachdenken, dann stellen wir einen merkwürdigen Zwiespalt fest: In Bezug auf Geschlecht und Sexualität bringen all diese Veränderungen zwar auch ein Mehr an Freiheit und Möglichkeiten mit sich, zugleich aber auch neue (v. a. ökonomische) Einschränkungen – und wir stellen fest, dass sie insgesamt heteronormativ strukturiert sind.

Nehmen wir z.B. die geforderte Mobilität bei Nachweis eines Arbeitsplatzes: »Die Regelungen zur Zumutbarkeit von Beschäftigungen werden mit dem Ziel ergänzt, bei Personen ohne familiäre Bindungen eine größere regionale Mobilität zu erreichen.« (Bundestagsdrucksache 15/25, 3) »Arbeitslosen ohne familienhafte Bindungen [ist] zur Aufnahme einer Beschäftigung außerhalb des Tagespendelbereichs grundsätzlich ein Umzug zumutbar.« (ebd., 29) Dabei sind »familiäre Bindungen« definiert im Sinne des BGB, was ganz klar »eine Normierung auf die bürgerliche Ehe« bedeutet (Pape, Sieber und BAG queer, 2). Personen, die z.B. in Wohngemeinschaften leben und sich dort möglicherweise um Kinder kümmern oder einfach an ihre Mitwohnis gebunden fühlen, müssen trotzdem umziehen. Auch wer eine Freundin oder einen Freund pflegt oder unterstützt, die auf Hilfe angewiesen sind, kann zum Umzug gezwungen werden. Ganz allgemein werden Wahlverwandtschaften und nicht-familiäre Bindungen hier missachtet. Außerdem kann es ja auch Gründe geben, warum jemand an einem Ort wohnen bleiben will – etwa die Nähe zu einer Subkultur, zu Hilfs- und Beratungseinrichtungen, zu spezialisierter medizinischer Betreuung usw. Ein anderer Aspekt ist, dass die Abdrängung von Menschen in die Sozialhilfe (die dann Arbeitslosengeld II heißen soll) diese in Abhängigkeit von der Herkunftsfamilie bringt. Die eigenen Lebensentwürfe werden damit auf das Wohlwollen der Eltern verwiesen. Das heißt also, dass mit der Deregulierung des Sozialstaates Ehe und Familie als traditionelle Leitbilder reproduziert und gestützt werden.

Gleichzeit eröffnen sich mit dem sozialstaatlichen Rückzug aber auch Möglichkeiten für alternative Kooperationen. Ein Beispiel dafür ist ein Projekt, das entstand, nachdem jemand in sehr kurzer Zeit sehr drastisch an den Folgen von AIDS erkrankt ist und zum »Pflegefall« wurde. Zunächst wurde er über einen längeren Zeitraum von seinem FreundInnen-Kreis betreut; u. a. gründete sich eine WG, die sich aber nach zwei Jahren wegen anderer Schwierigkeiten wieder auflöste. Als der Betroffene dann wieder allein wohnte, stand die Frage, wie es mit der Pflege und der Betreuung weitergehen sollte. Durch Beratung bei einer sehr engagierten Initiative von Schwerstbehinderten stieß der erwähnte FreundInnen-Kreis auf eine Regelung des BSHG, auf die so genannte »Nachbarschaftshilfe«. Das ist eine Art gesetzlich abgesicherter Schwarzarbeit. Das Sozialamt bezahlt Leute für Tätigkeiten, die sonst ein Pflegedienst übernehmen würde. Das Amt zahlt einen wesentlich niedrigeren Satz, aber dieses Einkommen muss auch nicht versteuert und nicht mit Sozial- oder Arbeitslosenhilfe verrechnet werden. Man kann von diesem Einkommen nicht besonders gut leben (zumal es auch Obergrenzen für den Verdienst daraus gibt) – aber es ist doch eine prima Ergänzung für Leute, die z.B. von Sozialhilfe leben. Wie gesagt, das Modell beruht nicht auf Betrug und es schützt auch nicht davor, in eine andere, »richtige« Stelle vermittelt zu werden. Aber es enthält doch bemerkenswerte Momente von Selbstbestimmung: Für den Hilfenehmer sichert es, dass er auch weiterhin von seinen Freunden und Freundinnen betreut wird. Und für die anderen bietet es die Möglichkeit, vom Staat Geld zu bekommen für etwas, das sie sowieso tun wollen und tun. Hervorheben will ich noch, dass es queere Freundschaften waren, die die Basis dieses Projekts bildeten.

Eingangs habe ich erwähnt, dass es die Möglichkeit gibt, eine Ich-AG zur Familien-AG auszuweiten. Ein weiteres Beispiel soll zeigen, dass auch hier andere Möglichkeiten der Aneignung bestehen und dass es vielleicht Wege gibt, wie aus lauter Ich-AGen ein Wir werden könnte. Das Projekt »Kaufhaus Kreuzberg« soll am Kottbusser Tor in Berlin entstehen, im Neuen Kreuzberger Zentrum (NKZ). Es soll einen Rahmen herstellen, in dem Leute eine Existenzgründung versuchen (und fördern lassen) können und sich zugleich zu gegenseitiger Hilfe und solidarischem Umgang verpflichten. Was mich daran interessiert, ist u. a. die Frage, ob da eine kollektive Strategie gegen die individualisierende Wirkung des Hartz-Konzepts entsteht. Was mich interessiert, ist außerdem, welche Rolle in diesem Solidar-Modell queere Freundschaften spielen – denn an dem Projekt sind viele (wenn auch nicht ausschließlich) Lesben und Schwule beteiligt, sie tragen geradezu das ganze Projekt. Und was mich natürlich auch interessiert, ist die Frage, wo die Grenzen verlaufen zwischen der Integration ins bestehende Gesellschaftsmodell und der Möglichkeit, das Bestehende zu verändern. Diese Fragen lassen sich allerdings erst beantworten, wenn das Projekt wirklich realisiert wird – und das wird derzeit durch die Blockade-Haltung der Immobilien-Gesellschaft verhindert, der die NKZ-Gebäude gehören. [3]


Ambivalenz und Selbstverwirklichung

Selbstermächtigungen stellen aber auch eine Gefahr dar: Sie gaukeln uns die Möglichkeit vor, unsere

Lebensgestaltung vollkommen selbst in der Hand zu haben, und blenden die gesellschaftlichen Zwänge aus, denen Menschen unterworfen sind. Die neoliberale Ideologie gruppiert sich um das Versprechen individueller Selbstverwirklichung und das verleiht ihr ihre große Kraft. Das wird u.a. plausibel, wenn wir an Fernseh-Shows denken, in denen Menschen ihr Innerstes nach Außen kehren und wichtige oder unwichtige Punkte inszenieren, die sie von allen anderen Menschen auf diesem Planeten unterscheiden. Es wird aber auch klar an den täglichen Gewinnspielen im Fernsehen oder an den Milliardenumsätze der Lotto-Industrie, mit denen jedeR sein/ihr Glück machen kann – und völlig unabhängig von Geschlecht, Sexualität, Erwerbsstatus oder Herkunft. Dieses Versprechen auf Selbstverwirklichung könnte auch eine Erklärung für den nur zaghaften und scheinbar immer schwächer werdenden Widerstand gegen neoliberale Programme sein, weil die Auffassung vorherrscht, der Sozialstaat sei bankrott und daher müsste nun jedeR für sich allein klar kommen – was ja auch viel mehr Möglichkeiten verspricht, selbst aktiv zu werden und dadurch Erfolg zu haben.

Die neoliberale Ideologie eröffnet vielen Individuen neue Möglichkeiten, sich selbst zu verwirklichen. Mit Befreiung aber hat das nichts zu tun, weil sich Befreiung nicht individuell verwirklichen lässt – sie ist immer ein kollektiver (was nicht heißt: kollektivistischer) Prozess. Im Neoliberalismus entsteht statt dessen ein ambivalentes Gemenge differenzierter Ungleichheiten. Die Differenzierung der gesellschaftlichen Arbeitskraft, in die auf viele Weisen alte und neue Geschlechterentwürfe und sexuelle Selbstverhältnisse eingehen, führt insgesamt zur Individualisierung, zur Abnahme von Solidarität und damit auch von (kollektiver) politischer Handlungsfähigkeit.

Neben diesem stabilisierenden Aspekt in der Selbstgestaltung ist an der Ideologie der Selbstverwirklichung aber noch ein direkt ökonomisch vernutzbarer Aspekt bemerkenswert: der »Anreiz zu Formen der Produktion, bei denen die Subjekte sich selbst in dem verwirklichen, was sie produzieren, und sich daher selbst zu immer weiteren Leistungen treiben.« (Wagenknecht 2003) Vorhin war ja schon von den Computer programmierenden Männern die Rede. »Auf diese Weise zu arbeiten, ist (noch?) ein Privileg. Es breitet sich aus, bleibt aber bisher einer Minderheit vorbehalten. Allerdings arbeitet diese Elite vor allem mit den hochtechnologischen Produktionsmitteln, die die neue Produktionsweise prägen. Ihre Wunscherfüllung treibt den Motor der Veränderung mit an.« (ebd.)

Es sind mindestens drei Momente, mit denen die Heteronormativität sich im neoliberalen Kapitalismus als funktional für die Kapitalverwertung erweist: (A) In ihrer traditionalistisch anmutenden Ausprägung sichert sie die alte vergeschlechtlichte Arbeitsteilung, die hierarchische Anordnung der Geschlechter im gesellschaftlichen Produktionsprozess. (B) In ihrer neueren, pluralisierten Form geht sie ein in die Produktion von Ambivalenz. Die Individualisierung in unüberschaubar werdende Hierarchien hinein sichert die Stabilität der ganzen Anordnung mit, in der der Verwertungsprozess sich organisiert. Und (C) sie reizt die Arbeitskräfte zu bestimmten Formen der Produktion an, sie erzeugt ein Begehren, sich ganz und gar in den Arbeitsprozess hineinzustürzen, sich darin selbst zu verwirklichen. Das heißt, sie treibt auch den Motor der Verwertung mit an.

Nun schreibt Rosemary Hennessy in ihrem höchst empfehlenswerten Buch »Profit and Pleasure«, »dass der Kapitalismus die Heteronormativität zu seinem Nutzen einsetzt, heißt noch nicht, dass sie für die kapitalistische Produktion notwendig ist. Der Kapitalismus braucht die heteronormierten Familien nicht und nicht einmal eine geschlechtliche Arbeitsteilung. Was er benötigt ist eine ungleiche Arbeitsteilung.« (2002, 105 Übers. N.W.) Das klingt, als könnten sich die kulturellen Verwertungsbedingungen so weit verändern, dass die Heteronormativität noch während des Kapitalismus verschwindet. Dagegen würde ich einwenden, dass ein solcher Wandel überhaupt nicht in Sicht ist. Aber es bleibt noch ein zweiter Einwand gegen Hennessy: Sie benennt nicht die Rolle, die Geschlecht und Begehren als Antrieb des Verwertungsprozesses spielen. Menschen arbeiten nicht nur, um ihren Lebensunterhalt zu sichern, sondern auch, um sich selbst zu verwirklichen. Dieser Drang zur Selbstverwirklichung lässt sich nicht jenseits der sexuellen Subjektivität denken, er hat mit den psychischen Prozessen zu tun, in denen wir zu Männern und Frauen werden. Das heißt nicht, dass Kapitalismus und heterosexuelle Matrix auf ewig bestehen bleiben müssen, weil sie unsere Existenz als Menschen garantieren. Es heißt vielmehr, dass Befreiung nur als Befreiung von beidem gedacht werden kann – als Befreiung vom Geschlecht und als Befreiung vom Kapitalismus. Ein solcher Prozess kann die Individualisierung nicht durchstreichen oder auslöschen. Im Gegenteil geht es darum, neue Formen der Assoziation zu finden, in denen die freie Entfaltung der Einzelnen Voraussetzung für die freie Entfaltung aller ist.


Nancy Wagenknecht



Dieser Text wurde als Vortrag im Rahmen der Reihe »XYZ – Geschlechterzeichen ungelöst« am 17. 6. 2003 in Münster gehalten. Eine überarbeitete Fassung soll in dem gleichnamigen Buch erscheinen, das von Elisabeth Tuider herausgegeben wird.


>notes<

>1< Vgl. die Bundestagsdrucksachen 15 / 25, 15 / 26 und 15 / 77

>2< Erste mir bekannte Ausnahme ist ein Papier der BAG queer bei der PDS, vgl. Pape, Sieber und BAG queer, o. J.

>3< Das NKZ gehörte einem Immobilienfond, dessen Anteilseigner über dreißig Jahre Steuern gespart haben, während zugleich Millionenschulden auf die Gebäude gehäuft wurden. Jetzt sind sie (für einen Euro pro Anteil) verkauft und die neue Eigentümer-Gesellschaft muss vermutlich erst einmal bankrott gehen, damit die Stadt die Schulden übernimmt und eine neue, gewinnbringende Verwertung beginnen kann.


>texte<

<-> Boudry, Pauline/Brigitta Kuster/Renate Lorenz, Hg. (1999): "Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität. Arbeit und Zuhause". Berlin: b_books

<-> Haug, Frigga (2001): "Zur Theorie der Geschlechterverhältnisse". In: Das Argument 43/243, 761-787

<-> Hennessy, Rosemary (2000): "Profit and Pleasure. Sexual Identities in Late Capitalism". New York: Routledge

<-> Massey, Doreen (1999): "Männlichkeit, Dualismen und Hochtechnologie". In: Boudry, Kuster und Lorenz, 36-63

<-> McDowell, Linda (1999): "Body Work. Die Darstellung von Geschlecht und Heterosexualität am Arbeitsplatz". In: Boudry, Kuster und Lorenz, 178-207

<-> Pape, Angela/Sylvia Sieber/BAG queer der PDS: "Stellungnahme der Bundesarbeitsgemeinschaft queer der PDS zum Hartz-Konzept". o.O., o.J.

<-> Wagenknecht, Peter (2001): »(Hetero–)Sexualität« in einer Theorie der Geschlechterverhältnisse. In: Das Argument 43/239, 811-820

<-> Wagenknecht, Peter: »Always be yourself!« – Die Formierung von Subjektivität unter neoliberaler Hegemonie. Zur Verschränkung von Männlichkeit, Klassenposition und normativer Heterosexualität. In: Pieper, Marianne/Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Hg. (2003) Gouvernementalität. Eine sozialwissenschaftliche Debatte im Anschluss an Foucault. (Im Erscheinen)