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Die Schröderschen Sozialreformen



1. Krise des Arbeitsmarktes – Krise des Systems der Lohnarbeit

Die von »Wirtschaftsweisen« und Arbeitsmarktexperten seit längerem beschworene Rezession scheint inzwischen eingesetzt zu haben. Im Strom der nicht

abreißenden Horrormeldungen über Rekorderwerbslosenzahlen, Firmenpleiten, bankrotte kommunale Haushalte und Schließung von Bibliotheken, Schwimmbädern und sozialen Einrichtungen, den Debatten um Rentenniveau, Rentenbeiträge und Renteneintrittsalter sowie die Kostenkrise im Gesundheitswesen wird dem erschrockenen Zeitungsleser und Fernsehzuschauer zunehmend unklar, inwiefern diese verschiedenen Tatbestände miteinander zusammenhängen und warum.

Genau diese Unklarheiten und dumpfen Ängste um Job und Existenzsicherung nutzt nun die medienwirksam in die Ecke gedrängte Schröder-Regierung, um einen grundlegenden Bruch mit den bisherigen sozialstaatlichen Rahmenbedingungen zu inszenieren und den massivsten Angriff auf Lebensstandard, soziale Rechte und Absicherungen der Lohnabhängigen seit Bestehen der BRD zu starten. Kommen sie damit durch, wird es zwar möglicherweise die Sozialdemokratie im bisherigen Sinne nicht mehr geben und werden wohl auch die DGB-Gewerkschaften als Co-Manager und soziale Moderatoren des Spannungsverhältnisses von Kapital und Arbeit ausgedient haben, sie werden aber die historische Mission erfüllt haben, die ihnen im beginnenden 21. Jahrhundert zukommt, nämlich den nachholenden Modernisierungsschub des deutschen Kapitalismus in Richtung auf Entgrenzung der Arbeitszeiten, Radikalisierung der Ausbeutungsverhältnisse, Neuregulierung und Entrechtlichung des Arbeitsmarktes, Verallgemeinerung und Vertiefung des Kapitalverhältnisses, mit dem kleinstmöglichen Widerstand seitens der Lohnabhängigen umgesetzt zu haben.

Die Maßnahmen, die nun zur Diskussion stehen, sind jedoch nicht einfach »soziale Grausamkeiten«, ausgeführt von einer orientierungslosen und unfähigen Regierung, die sich nicht anders zu helfen weiß, um aus ihrem Umfragetief herauszukommen, sondern die vom Kapitalinteresse her notwendige Reaktion auf eine tiefgreifende Krise der Lohnarbeit, die sich u. a. in den seit Jahren konstant hohen Erwerbslosenzahlen manifestiert. Diese Zahlen sind – und soviel haben Regierung und Unternehmerlobby inzwischen begriffen – Ausdruck einer strukturellen und nicht in erster Linie konjunkturellen Krise. Im Übergang vom Fordismus zum Postfordismus und der damit einhergehenden Fragmentierung, Ausdifferenzierung und Deterritorialisierung der Lohnarbeitsverhältnisse haben sich die Grenzen zwischen Lohnarbeit und selbständiger Arbeit, formell dokumentierter und informeller Arbeit und vor allem zwischen für den Arbeitsmarkt verfügbarer Arbeit und »Nicht-Arbeit« seit den frühen achtziger Jahren soweit verwischt, die Nischen und Fluchtreaktionen aus dem System der fordistischen Lohnarbeit soweit geöffnet, dass bei gleichzeitig steigenden Erwerbslosenquoten die Reproduktion der Lohnarbeiterklasse als Klasse gefährdet schien. Die aus dem »Normalarbeitsverhältnis« »freigesetzten« Menschen, vor allem jüngere, denen die kapitalistische Arbeitsethik nicht mehr in dem Maße ansozialisiert wurde wie den gewerkschaftlich und industrialistisch geprägten ArbeiterInnengenerationen vor ihnen, sind der Zwangsjacke eines Fulltime-Jobs mit Arbeitshetze, Betriebsethos, Mobbing, nervenden Vorgesetzten, Konkurrenz etc. aus dem Wege gegangen soweit es nur ging. Das entstehende Netzwerk unterschiedlichster »selbständiger«, »freier« oder Teilzeitbeschäftigungen, Jobs auf Zeit, die gewechselt werden wenn der Druck am Arbeitsplatz steigt etc., hat das Kapital innerhalb kurzer Zeit für sich absorbieren können und in veränderte Produktionsabläufe eingebunden (»Lean Production«, »Just-in-time-Production«). Dabei stellte sich heraus, dass es wesentlich effektiver ist, zusätzlich zur reinen körperlichen Arbeitskraft auch die Kreativität und Innovationsfähigkeit von Lohnabhängigen zu kaufen, als achteinhalb Stunden täglich stumpfsinnige Fließbandarbeiten ausführen zu lassen. Die kostenintensiven Hierarchien, Überwachungs- und Disziplinierungsapparate konnten teilweise abgeschmolzen, die Arbeitsorganisation deutlich flexibler gestaltet werden.

In der Praxis ist damit aber auch die Notwendigkeit verbunden, einerseits ein ausreichend großes Reservoir von qualifizierten FacharbeiterInnen zur Verfügung zu haben, die bereit sind, die damit verbundene massive Verdichtung der Arbeitszeit hinzunehmen und andererseits, auf ein funktionierendes Netz von unqualifizierten und prekären Zulieferarbeiten zu-rückgreifen zu können, die unerlässlich sind, um die Produktionsketten am Laufen zu halten. Was dabeifür den klassischen industriellen Sektor gilt, ist in noch stärkerem Maße für die neuen Dienstleistungsindustrien der »New Economy« erforderlich. Wie aber lässt sich die notwendige Arbeitskraft der »working poor« rekrutieren, wenn noch genügend Nischen vorhanden sind, um dem ökonomischen Zwang zur Lohnarbeit, wenn auch um den Preis eines erbärmlich niedrigen Lebensstandards, zu entkommen?

Auf der Basis des bestehenden, von der Krise des Fordismus geprägten Arbeitsmarktes konnte sich in Deutschland wie auch in einigen anderen westeuropäischen Ländern, etwa Österreich oder Frankreich, kein stabiles Modell der Arbeitsorganisation entwickeln, das den fordistischen Taylorismus hätte beerben können und dessen Produktionsabläufe sich nicht in der Gefahr der Destabilisierung durch Arbeitskräftemangel, relativ strikt begrenzte Arbeitszeiten (den Normalarbeitstag eben), und – in der Tat – einen extrem hohen, geradezu sozialstaatlich hohen, Preis der Ware Arbeitskraft befunden hätten.

2. Neue Arbeitsverhältnisse und Arbeitszeiten: Ausweitung der Lohnarbeit in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein

Entgegen den Thesen vom »Ende der Arbeitsgesellschaft«, die noch vor wenigen Jahren in weiten Teilen der Linken in aller Munde waren, hat demnach, trotz des Zerfalls der »Normalarbeitsverhältnisse« und einer formell registrierten Massenerwerbslosigkeit, wie es sie in Deutschland seit Ende der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht mehr gegeben hat, die Lohnarbeit nicht ausgedient: Sie hat sich lediglich diversifiziert, entrechtlicht und zeitlich wie örtlich entgrenzt. Diesen Prozess zu steuern und den notwendigen ökonomischen Druck zu ermöglichen, durch den Arbeit nicht nur allgegenwärtig, sondern auch wieder fassbar wird und lückenlos den Alltag und das Alltagsbewusstsein bestimmt, ist zur Überlebensfrage für die postfordistische Ökonomie geworden. Die in diese Richtung gehenden politischen Bemühungen wurden von BDI und anderen seit Jahren lanciert und scheinen die sozialdemokratische Bundesregierung auch zunehmend zu beschäftigen. Dazu gehört auch, die Beschäftigungsverhältnisse überhaupt erst einmal zu schaffen, mit denen sich ein flächendeckender Niedriglohnsektor etablieren lässt. Hier setzen die Vorschläge der Hartz-Kommission an, wenn es um die Disziplinierung der Subjekte und deren Unterwerfung unter das postfordistische Akkumulationsregime geht. Drei prägnante Beispiele seien kurz genannt:

1) Umkehrung der Beweislast: Erwerbslose müssen nun nachweisen, dass ein Job ihnen nicht zumutbar ist, andernfalls müssen sie bei Ablehnung eines solchen »Angebots« mit drastischen Kürzungen der Bezüge rechnen.

2) Ist jemand bei einer PSA (Personal-Service-Agentur) beschäftigt, so muss er in den ersten sechs Monaten jeden Job übernehmen. Tut er dies nicht, muss er mit dem Verlust des Arbeitslosengeldes rechnen.

3) Generell soll es Arbeitslosengeld nur noch in Verbindung mit erzwungener Arbeit geben.

Der Tenor der Unternehmerforderungen, die in verschiedenen Paketen jetzt umgesetzt werden, lautet: Der K

Die Krise der Lohnarbeit, als Modernisierungskrise der kapitalistischen Arbeitsorganisation im Übergang vom Fordismus zu einem bisher eher diffusen postfordistischen Akkumulationsregime, wird also durch Politik und Ökonomie gemeistert, indem ein verallgemeinerter Arbeitszwang etabliert wird, der durch die Auflösung der fordistischen Kommandostruktur der Fabrik nur noch totaler und repressiver ist, weil die bisher erprobten Formen kollektiven Widerstands etwa für selbständige ArbeiterInnen und prekäre Teilzeit- oder PSA-JobberInnen weitgehend wegfallen und dem Kapital im Kampf um die Kontrolle der Lebenszeit der Lohnabhängigen keine Grenzen mehr gesetzt werden. Den freien Sonntag als Allgemeingut, als geschützten Raum zur Wiederherstellung der Arbeitskraft, gibt es schon seit Jahren nicht mehr, Sonntagsarbeit als Regelfall durchzusetzen, wird das nächste Ziel sein. Verfügbar zu sein, nicht nur an fünf Tagen in der Woche von 9 bis 17 Uhr, sondern täglich rund um die Uhr, ist die eigentliche Forderung, die hinter der Debatte um erweiterte Ladenöffnungszeiten und die »Dienstleistungshölle Deutschland« steht. Lohnarbeit in bestimmten Situationen auch am heimischen Computer zu verrichten, ohne dafür ein Großraumbüro aufsuchen zu müssen, ist eine Errungenschaft der IT-Branche und anderer neuer Dienstleistungsindustrien. Es handelt sich bei diesem Komplex um die möglichst vollständige Auflösung jedes von Arbeit für das Kapital freien Schutzraumes, sowohl örtlich als auch zeitlich. Thomas Seibert konstatiert denn auch:

»... wenn der selbstständige Arbeiter der Spaltung zwischen Arbeitszeit und Lebenszeit und der Einsperrung in die Fabrik entkommen ist, so letztlich nur deshalb, weil die Fabrik die ganze Zeit und den ganzen Raum der Existenz durchdrungen hat, und zwar nicht nur der individuellen Existenz, sondern der sozialen Existenz. Insofern gilt das, was von der selbstständigen Arbeit im informellen Sektor gesagt werden kann, auch von der modernisierten Lohnarbeit: Auch hier wird das alte Kommando – der Ausschluß der Subjektivität unter der Disziplin der Maschinerie – abgelöst durch ein Kommando, das in die Subjekte selbst hineinverlegt wird ...«

Karl Heinz Roth brachte bereits 1998 auf den Punkt, welche Strategie dieser Transformation von Arbeitsverhältnissen zugrunde liegt. Flankiert durch eine massenhafte Erwerbslosigkeit, die auf all diejenigen, die sich, unter welchen Bedingungen auch immer, in einem Arbeitsverhältnis befinden, einen disziplinierenden Einfluß ausübt, wird durch eine Demontage der Sozialversicherung, die die ArbeiterInnen dazu zwingt, sich in den untersten Segmenten des Arbeitsmarktes zu verdingen oder in direkte Zwangsarbeitsverhältnisse presst, massiver Druck ausgeübt: »Alle diese Veränderungen dienen nur einem einzigen Ziel: der extensiven und intensiven Steigerung der Ausbeutungsraten als Quellen der Abpressung von Mehrwert.«

Wenn wir aber nur noch Arbeitsmonaden sind, deren »Freizeit« flexibel irgendwann zwischen zwei jederzeit veränderbaren Schichten zu verbringen ist, oder auch von der Lohnarbeit gar nicht mehr zu trennen ist, weil das eine qua »Selbständigkeit« und »Selbst-management« nahezu bruchlos ins andere verzahnt ist, entfällt eine Grundlage bisheriger Sozialbeziehungen. In jedem Fall werden dabei die gesundheitlichen, sozialen und psychosozialen Folgekosten des unbegrenzten Arbeitstages und des verallgemeinerten Arbeitszwanges enorm sein.

3. Renten- und Gesundheitssystem als Garant der ständigen Verfügbarkeit der Ware Arbeitskraft

Wäre noch zu ergänzen, dass die Debatten um die Reform des Gesundheitssystems wie auch um die Zukunft der Renten dem selben Ziel dienen wie die vordergründigen arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen durch Hartz und Agenda 2010. Verfolgt mensch die Debatte um die Krise des Sozialstaats, so scheint die sogenannte »Rentenfrage« und die paritätische Finanzierung des Krankengeldes zum existentiellen Problem in Bezug auf die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland zu werden.

Die immer wieder heraufbeschworene Gefahr des Zusammenbruchs des Rentensystems geht dabei stets mit der gebetsmühlenartig heruntergespulten Litanei von der demographischen Entwicklung einher. Kern dieses Arguments ist, dass auf zu wenig arbeitende Menschen zu viele Rentner kämen. Im Klartext: immer länger lebenden Menschen stehen immer weniger gebärfreudige Menschen gegenüber. Tatsache ist, dass in der Bundesrepublik gegenwärtig auf hundert Einwohner im Alter zwischen 20 und 60 Jahren vierzig über 60 kommen und legt mensch die gegenwärtige Tendenz zugrunde, wird sich dieses Verhältnis in den nächsten Jahren weiter zugunsten der über 60 jährigen verschieben. Das Problem scheint klar auf der Hand zu liegen: Die Rentenkassen können nicht mehr finanziert werden.

Doch schnell ist mensch aus den Reihen von Sozialdemokratie und Grünen mit den diversen Universalschlüsseln zur Stelle. Mit dem Instrumentarium eines sogenannten »Nachhaltigkeitsfaktors« soll der Einstieg in eine Zusatzrentenversicherung ermöglicht werden, die – möglicherweise ab 2005 – verpflichtenden Charakter haben wird. Durch Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes soll der Gang in die Frührente erschwert werden und das Renteneintritts-alter von 65 auf 67 Jahre steigen.

Die simple Milchmädchenrechnung, dass es zu viele Greise gegenüber zu wenig Malochern gebe, unterschlägt allerdings völlig den Faktor der Produktivität, die in den neunziger Jahren immerhin um 2 bis 2,5 % gestiegen ist. Eine Verschiebung von weniger arbeitenden Menschen hin zu mehr Rentnern wird also mehr als aufgefangen. Desweiteren mutet es bizarr an, wenn vor dem Hintergrund eines gleichzeitig laut skandalisierten Arbeitsplatzmangels das Problem ausgerechnet darin gesehen wird, dass die Menschen nicht lange genug im Arbeitsprozeß stehen. Das gegen die Weiterführung der paritätischen Finanzierung der Krankenversicherung immer wieder genannte Argument dürfte genau so sattsam bekannt sein wie der permanente Verweis auf die demographische Entwicklung in der Rentendebatte: Die Lohnnebenkosten seien zu hoch und somit sei – wieder einmal – die Konkurrenzfähigkeit des Standorts Deutschland nicht gegeben. Die entsprechende Roßkur dagegen soll nun u. a. die Streichung des Unternehmeranteils am Krankengeld und die private Vorsorge für Krankheiten und Unfälle, die nicht unmittelbar aus dem Arbeitsprozeß resultieren (z.B. Zahnersatz), sein. Wurden bisher ArbeitnehmerInnen in den ersten sechs Wochen ihrer Krankheit durch den Arbeitgeber weiter mitbezahlt, sollen nun die Kosten allein von den ArbeitnehmerInnen, vermittelt über die Krankenkassen, getragen werden, was im Grunde die Menschen dazu nötigt wiederum Zusatzversicherungen abzuschließen, die, netterweise, dann von den gesetzlichen Krankenkassen angeboten werden.

Natürlich kann sich eine linke Kritik an der Transformation der Sozialsysteme nicht mit irgendwelchen Verweisen auf die Lohnstückkosten begnügen, will sie sich nicht in den Fallstricken eines Standortnationalismus verfangen, wie im Falle der Gewerkschaften. Die Kapitalstrategie, die dem zugrunde liegt, wird nur erfaßt, wenn mensch diese Maßnahmen in den Kontext der Restrukturierung der Lohnarbeit und der Radikalisierung der Ausbeutungsverhältnisse stellt.

Eine Erhöhung der Mehrwertproduktion wird erreicht über die Senkung der Lohnquote, denn die Befreiung der Unternehmer von den Beitragszahlungen und die Nötigung zur zusätzlichen Versicherung stellt de facto eine Minderung des Nettolohns dar. In puncto ständige Mobilisierbarkeit der ArbeitnehmerInnen sollen die hier andiskutierten Maßnahmen garantieren, dass mensch, auch in hohem Alter, bereit ist, Arbeit zu den prekärsten Bedingungen anzunehmen. Auch wird mensch es sich künftig wohl zwei Mal überlegen, im Krankheitsfall zu Hause zu bleiben, wenn die Lohnfortzahlung nicht gesichert ist.

In diesem Zusammenhang soll der Umbau des Sozialstaats auch das leisten, wozu die Sozialsysteme in ihrer bisherigen Form nicht in der Lage waren: Die Verinnerlichung des postfordistischen Arbeitsethos.

4. Die Antworten der DGB-Gewerkschaften: Keynes aus der Mottenkiste

Welche Rolle spielen in diesem Dramolett nun die DGB-Gewerkschaften? Ihre Isolierung ist ein lehrreiches Beispiel dafür, wie Regierung und Kapital sich der bisherigen »Sozialpartner« entledigen, die sowohl in ihrer Funktion der Disziplinierung der LohnarbeiterInnen und der Kanalisierung von Kämpfen in den postfordistischen Produktionsnetzwerken überflüssig geworden sind, wie auch in ihrer Rolle als institutionelle Gegenmacht der ArbeiterInnen ausgeschaltet werden sollen. Es ist wieder populär geworden, den Gewerkschaften die Rolle der »Strukturkonservativen« zuzuschieben. Als notorische Bremser entlarvt, stehen sie dem nationalen Schulterschluß im Weg.

Schaut mensch jedoch hinter die Kulissen dieser medialen Inszenierung, so stellt sich der »vehemente« Widerstand der Gewerkschaften nur als verschämtes Hervorkramen alter keynesianischer Notrationen garniert mit etwas Sozialstaatsglorifizierung und Arbeitsfetisch dar. Der Widerstand der gewerkschaftlichen FunktionsträgerInnen (der offensichtlich vom grösseren Teil der Basis gar nicht unterstützt wird) ist ja auch nicht ein Kampf um soziale Rechte an sich, sondern wird um die Bewahrung der institutionellen Machtpositionen geführt, welche die DGB-Gewerkschaften in der fordistischen Fabrik wie auch in den Institutionen der Arbeitsverwaltung und in den Aufsichtsräten innehatten. Diese stellen allerdings zunehmend überhaupt keine reale Machtbasis mehr dar. Ihr Gegenstand, die Mitgestaltung, das Co-Management in der fordistischen Arbeitsorganisation ist weitgehend abhanden gekommen. Es ist also kein Wunder, wenn die Alternativen der um ihr Überleben kämpfenden Gewerkschaftsbürokratie in erster Linie Ideen zur Wiederherstellung der alten sozialstaatlichen Regulierung des Arbeitsmarktes sind.

Die »keynesianische Ära« war gekennzeichnet durch die Kopplung der Despotie des Fabrikkommandos an die gleichzeitige Anerkennung der Arbeitskraft durch das Kapital, die im Sozialkorporatismus ihren Ausdruck fand.

Die gewerkschaftliche/sozialdemokratische Linke konstruiert sich dabei ein Ideal eines Sozialstaats, eines befriedeten Kapitalismus, das in dieser Form niemals wirklich Bestand hatte. Dennoch scheint dies die äußerste linke Grenze des momentanen Diskurses zu sein, aus dem zu desertieren kaum jemand gewillt ist.

Eine auf einer arbeitsfetischistischen Vorstellung beruhenden Trennung zwischen Kapital, ArbeiterInnen und Nicht-Arbeitenden funktioniert nicht und deckt sich keineswegs mit den Lebensläufen der meisten Individuen. Erwerbslosigkeit stellt in aller Regel nur eine kurze oder, in letzter Zeit auch eventuelle längere, nie aber vollständige, Unterbrechung der Unterwefung der Subjekte unter die Despotie der Arbeit dar. Erwerbslosigkeit kennzeichnet oft nur einen Wechsel zwischen klassischem Lohnarbeitsverhältnis, Arbeitslosengeld, Schwarzarbeit, Teilzeitjobs und wiederum klassischer Lohnarbeit. Die Flucht vieler ArbeiterInnen in die Schwarzarbeit oder Scheinselbständigkeit zeigt in diesem Kontext auch wie sehr das klassische Normalarbeitsverhältnis, dem die Gewerkschaften hinterher trauern, diskreditiert ist.

Es ist natürlich ebenso müßig wie banal, heutzutage noch den Gewerkschaften ihren vermeintlichen Verrat oder Inkonsequenz vorzuwerfen. Es sollte jedoch klar sein, dass jede Kritik an der gegenwärtigen Transformation der Sozialsysteme stumpf bleiben wird, wenn sie nicht auch eine Kritik am fordistischen Sozialstaat beinhaltet.


5. Perspektiven linker Politik

Eine radikale Linke, deren Selbstverständnis immer noch einen Klassenbezug beinhaltet und die auf mehr aus ist, als nur auf sich selbst zu rekurrieren, sondern vielmehr handlungsfähig bleiben (oder es wieder werden) will, sollte die hier skizzierten Entwicklungen in Bezug auf die Arbeitsverhältnisse zunächst einmal anerkennen und sie zum Ausgangspunkt ihrer Theorie und Praxis machen. Sie sollte sich nicht in irgendwelchen nostalgischen Reminiszenzen an den Sozialstaat ergehen, auch wenn diese in noch so radikal formulierten Erscheinungsformen daher kommen.

Dabei müssen auch all diejenigen Vorstellungen hinterfragt werden, die in den jeweiligen Umstrukturierungsprozessen kapitalistischer Warenproduktion die ArbeiterInnenklasse immer nur als Opfer ansahen. Vielmehr gilt es, die aktuellen Entwicklungen aus der Perspektive der sich neu konstituierenden Proletarität wahrzunehmen, welche neben dem allgemeinen Sachzwang der kapitalistischen Konkurrenz als Katalysator kapitalistischer Modernisierung wahrzunehmen wäre, als eine Reaktion, freilich eine konterrevolutionäre, auf die realen Bedürfnisse proletarischer Subjektivität. Mit anderen Worten: Jeder Neuformierungsprozess des kapitalistischen Kommandos birgt neben objektiven ökonomischen Entwicklungsgesetzen – und diese mitunter in ihrem Wirken beeinflussend – in sich die wirklichen ProduzentInnen als konstituierende Kraft.

Zum Schluß soll noch mal eine These angerissen werden, die Karl Heinz Roth bereits 1993 aufgestellt hatte. Die Differenzierung der Arbeitsverhältnisse ist – insbesondere im internationalen Kontext – immer auch zugleich eine Homogenisierung. Hierin bestehe – auch wenn dies für einige euphemistisch klingen mag – eine große Chance für einen neuen »proletarischen Internationalismus«. Trotz aller Segmentierung finde die Konstitution des postfordistischen Proletariats in einem globalen Rahmen statt, die langfristig zu einem zunehmenden Verschwinden der Unterschiede zwischen erster, zweiter und dritter Welt führe. Karl Heinz Roth beschreibt diese Tendenz folgendermaßen:

»Aber auch strukturell ist eine zunehmende Homogenisierung festzustellen, weil unbeschadet der oftmals enorm vergrößerten Einkommensunterschiede und der arbeitsmarktpolitischen Segmentierungen weltweit der Trend zur Durchsetzung ›ungeschützter‹ Arbeitsverhältnisse vorherrscht. Die Realeinkommen garantieren immer seltener das soziale Existenzminimum. Die Arbeitszeiten sind nicht mehr begrenzt, sondern oftmals extrem verlängert und auf die gesamte Arbeitswoche ausgedehnt. Die Arbeitsplätze selbst sind nicht mehr vertraglich gesichert und die sozialen Sicherungssysteme weitgehend demontiert.«

Einschränkend sei allerdings angemerkt, dass ein Land wie Afghanistan unter den Rahmenbedingungen kapitalistischer Weltvergesellschaftung in absehbarer Zeit kaum jenes Level bürgerlich-kapitalistischer Modernität erreichen wird, das einige mit der Invasion durch die »zivilisierten« Staaten herbeigebombt sehen wollten. So wird auch ein Land wie Brasilien im imperialistischen Rahmen noch auf lange Sicht der Sphäre der Peripherie angehören. Die internationale Arbeitsteilung bleibt also bestehen, nur wird sie vertieft und ausdifferenziert, indem sich sowohl in europäischen Regionen wie auch in Asien oder Afrika die gesamte Palette von industriellem oder postindustriellem Zentrum, Halbperipherie und Peripherie wiederfindet, durch die sie gekennzeichnet ist. In eine solche Richtung wäre Roths, auf den ersten Blick allzu simplifizierend und provokativ anmutende These zu ergänzen und zu konkretisieren.

Auf diese Homogenisierungstendenzen sollte mensch sich positiv beziehen und sich all jenen An-sätzen widersetzen, die – ob gewollt oder ungewollt –, indem sie beispielsweise Illusionen in den Sozialstaat schüren, im Ergebnis wieder bei einem bornierten Standortnationalismus landen. Wir stehen stattdessen vor der Aufgabe, die verschiedenen, sich neu und global formierenden Sektoren der Proletarität wieder in den Blick zu bekommen, die eigene Situation als dem Produktionsprozess für das Kapital unterworfene LohnarbeiterInnen zu analysieren und eine Praxis samt deren theoretischer Verarbeitung zu entwickeln, die sich verabschiedet von der Verteidigung der Arbeit gegen das Kapital. Aus dem Lohnarbeitsverhältnis heraus ist der Kampf gegen die Lohnarbeit zu organisieren und die etatistischen arbeitsfetischistischen Mythen der untergehenden Sozialdemokratie wie ihrer linken Wiedergänger einer radikalen praktischen Kritik zu unterziehen. Dies wird nicht so sehr die Proklamation abstrakter »Endziele«, sondern die Erringung kollektiver Handlungsmöglichkeiten und die Überwindung der Vereinzelung der Lohnarbeiter-Innen bedeuten.

Ziel emanzipatorischer revolutionärer Theorie und Praxis ist es, ausgehend von der Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse und der desillusionierenden Wahrnehmung der eigenen Lage, entlang der realen Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Proletarisierten, Prozesse der Selbstorganisation der ArbeiterInnen in Gang zu bringen, mit denen es möglich ist, das neu verstetigte System der Lohnarbeit ideologisch und politisch anzugreifen und zu sprengen.


Olaf Dehler und Lutz Getzschmann


>texte<

<-> Brütt, Christian: Der Kapitalist in uns allen. Arbeitskraftunternehmer als neues Leitbild der Ware Arbeitskraft. In: ak, 10.5.2001

<-> Roth, Karl-Heinz: Die neuen Arbeitsverhältnisse und die Perspektive der Linken. Referat auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz 199

<-> Roth, Karl-Heinz: Die Wiederkehr der Proletarität, Köln 1994

<-> Roth, Karl-Heinz: »Neue Konzepte gegen prekäre Arbeit« Interview in: Jungle World, 30.9.1998

<-> Seibert, Thomas: Ethos, Utopie und Ideologie der 'lavoro autonomo'. Vortrag, gehalten beim Alternativen Weltwirtschaftsgipfel in Köln 1999

>> Eine ungekürzte Fassung dieses Artikels findet sich unter: http://www.trend.partisan.net/trd7803/t087803.html