Mein Vorhaben, über vergangene praktische und theoretische Auseinandersetzungen (in) der radikalen Linken über Beziehungen und Herrschaft nachzudenken, stößt mindestens auf zwei Probleme, die miteinander zusammenhängen: Das meiner Autor-Position und das der Quellen. Bei diesem Thema ist die Definition der eigenen Position und die der daraus resultierenden Sichtweisen und Beschränkungen wichtig. Die (Re-)Konstruktion von Geschichte ist immer auch von der heutigen Position abhängig. Meine ist die eines in linksradikalen Debatten und Praxen verstrickten, heterosexuellen, in einer so genannten festen Beziehung lebenden Mannes. Soweit entspreche ich noch einem Typ hegemonialer Männlichkeit. Da ich aber als Hausmann sehr viel mit unseren beiden Kindern zu tun habe, weiche ich auch vom klassischen Männerbild des rationalen Ernährer-Managers ab und bin viel mit Reproduktionsarbeit und gemeinhin »weiblich« definierten Arbeiten beschäftigt und mit ebensolchen Orten konfrontiert. Ich denke, dass politische Debatten und Forderungen immer auch vom eigenen Leben und Wünschen ausgehen müssen. Insofern ist dieser Beitrag von den Debatten und Ereignissen geprägt, die ich in meinem politischen Leben in den letzten 20 Jahren mitbekommen habe.

Geschichte, und um die soll es jetzt ja gehen, überliefert sich normalerweise in schriftlicher Art und Weise. Die Geschichtsschreibung der radikalen Linken ist in der Regel von einer bestimmten, an Ereignissen (wie Demonstrationen oder thematischen Kampagnen) orientierten Sichtweise geprägt, die den Alltag in seinen vielseitigen kulturellen Ausprägungen unbeachtet lässt (vgl. Hüttner 2005). Debatten der radikalen Linken um Möglichkeiten emanzipatorischer sozialer Beziehungen, über patriarchales Verhalten von Männern und so weiter fanden in der Regel mündlich statt. Sie finden höchstens noch Niederschlag in verstreuten Zeitschriftenbeiträgen oder in schnelllebigen Broschüren und sind dementsprechend schwer zu rekonstruieren. Die Geschichte der Debatten der radikalen Linken um Möglichkeiten emanzipatorischer sozialer Beziehungen ist also eine geheime Geschichte innerhalb der sowieso eingeschränkten linksradikalen Geschichtsschreibung. Ein Zustand, dessen Änderung sicher nur kollektiv in Angriff zu nehmen sein dürfte.

1967, 1968 und die Folgen

Es ist keine Besonderheit der radikalen Linken der letzten 20, 30 Jahre, soziale Beziehungen und damit verbundene Hierarchien, Sexualität und Alltag zu thematisieren. Schon in der historischen Arbeiter_innenkultur des vergangenen Jahrhunderts gibt es Versuche, das tägliche Leben zu problematisieren und die bürgerliche Familie in Frage zu stellen. Die Kinderfreund_innenbewegung oder Experimente mit sozialistischer Pädagogik, die Versuche einer Schulreform oder die Arbeit der ersten (sozialistischen) Frauenbewegung sind nur einige Beispiele.

Die klassische Arbeiter_innenbewegung ist aber grundsätzlich vom Denken eines Hauptwiderspruchs, dem zwischen Kapital und Arbeit, und der Existenz von Nebenwidersprüchen (Kolonialismus, Sexismus, Stadt-Land) geprägt. Die Lösung des Hauptwiderspruchs soll erst die Lösung der anderen befördern und ermöglichen. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass die Nebenwidersprüche eben erst nach der Revolution (Hauptwiderspruch) gelöst werden können. Dieser aus heutiger Sicht verkürzenden Sichtweise hängt die Mehrheit der organisierten Arbeiter_innenbewegung und -kultur an, gleichzeitig gibt es immer künstlerische Avantgarden, die das Geschlechterverhältnis thematisierten, von lesbischen oder schwulen urbanen Subkulturen ganz zu schweigen.

Die in der herrschenden Meinung Student_innenbewegung genannte Sozialrevolte von 1967/68 reicht tiefer. Sie stellt die Norm der uniformen Lebenspraktiken der 1950er und 1960er Jahre und die damit verwobenen Hierarchien in Frage und bringt vor allem das eigene seelische und soziale Erleben in die Politik ein. Das Selbstverständliche im Privaten inklusive der Geschlechterzuschreibungen wird zunehmend entkleidet. Dadurch wird sichtbar, dass die kritisierten Formen des privaten und intimen Lebens erst vor 200 Jahre im Zuge der Aufklärung und der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft erfunden und machtvoll durchgesetzt worden sind.

Die »sexuelle Revolution« wird allerdings zuerst fast ausschließlich von Männern artikuliert, wobei die Geschlechterhierarchie unthematisiert bleibt und dadurch reproduziert wird. Nach 1967/68 wehren sich Frauen sehr schnell dagegen, weiterhin als Beiwerk angesehen zu werden. Ein öffentliches Signal ist der legendäre Tomatenwurf auf der Delegiertenkonferenz des SDS in Frankfurt im September 1968. Verärgert über das demonstrative Desinteresse, mit der die SDS-Genossen auf den Vortrag zur »Befreiung der Frau« reagieren, wirft eine Anwesende drei Tomaten – und traf auf dem Podium den SDS-Cheftheoretiker Krahl. Im Verhalten der männlichen Mehrheit auf dem Kongress hatte sich manifestiert, was in der Folgezeit zu einem zentralen Kritikpunkt (wenn auch nicht ausschließlich) der feministischen Bewegung wird: die Doppelmoral und Sexismusblindheit der Männer in der linken Szene. Die zweite Frauenbewegung entsteht und schafft neue eigene Räume: mit Frauenbuchläden, Frauenzentren, Frauenzeitschriften etc.

Durch Kinderläden, Wohngemeinschaften, Reformpädagogik in Schulen und Jugendarbeit werden Probleme von Erziehung, Sexualität, ja der gesamten Lebensweise politisiert. Es ist aber – trotz aller verbalen Erregtheit und politischer Konflikte – noch die goldene Zeit des Fordismus, die Arbeitslosigkeit ist niedrig und der Bezug von Sozialgeldern weit einfacher als heute.

In den 1970er Jahren ist in der Linken aber auch viel Esoterik, Bauchgefühl und Innerlichkeit anzutreffen. Viele reagieren auf die Repression des Staates und den eigenen politischen Frust mit ihrem Rückzug ins Private und dem Konsum ökologischer Nahrungsmittel. Man will ganzheitlich leben und dreht den Ansatz der Sponti-Linken »Das Private« sei »politisch« insoweit um, als nur noch das Private politisch ist. Die ersten Männergruppen und die Figur des Softie entstehen. Gleichzeitig gibt es aber auch mit Punk ganz andere Formen der Alltagskultur, die für die Linke eine Rolle spielen und in denen Geschlechterverhältnisse verhandelt werden. Spätestens ab Mitte der 1980er Jahre gibt es einen neuen Konsumismus der sich zum Beispiel an der Kommerzialisierung der damaligen Stadtzeitungen und anderer Formen medialer Öffentlichkeit festmacht. Die Frauenbewegung hat zwar noch nicht so viele Erfolge vorzuweisen, ist aber mittlerweile zumindest in den Städten relativ institutionalisiert und aus der linkspolitischen Kultur nicht mehr wegzudenken. Die Fraktion der Grünen im Bundestag wählt sich einen nur aus Frauen bestehenden Vorstand, das Feminat.

Die neuere radikale Linke und …

Die außerparlamentarismuskritische Linke war und ist – wie der Rest der Gesellschaft auch – zwar grundsätzlich heterosexuell codiert, entwickelt aber Kritik an Zwangsheterosexualität und versucht diese im Hier und Jetzt umzusetzen (während die dogmatischen Teile dieses Problem nicht sehen oder sich gar darauf orientierten, damit bis nach der Revolution zu warten). Der Vereinzelung soll mit Kollektivität, der Entfremdung mit Befreiung begegnet und die Kritik in Aktion umgesetzt werden. Die Debatte um Beziehungen, Beziehungsformen, Hierarchien und Herrschaft hat in der undogmatischen Linken seit 1967/68 immer eine Rolle gespielt, sie war in allen Debatten anwesend, wenn auch nicht immer sichtbar. Der Grund für die Existenz eigenständiger Frauenorganisierung waren und sind vor allem die kritikwürdigen Zustände in der gemischten Linken – sowohl im öffentlichen Raum, wie im privaten: Wer definiert in der Wohngemeinschaft die Hygienestandards, wer ist dort für was zuständig, solche Fragen sind genauso wichtig, wenn nicht wichtiger, als die der Theorie und die der (Mängel der) eigenen Organisierung.

Die radikale Linke oder auch die Autonomen, die den Strang der außerparlamentarischen Linken der End-80er und der 1990er Jahre darstellen, machen da keine Ausnahme. Die Kampagne gegen ein Treffen von Internationalem Währungsfond (IWF) und Weltbank in Westberlin 1988 war der Höhepunkt der historischen, westdeutschen Autonomia – ein Jahr vor dem Fall der Mauer. Spätestens hier spielt die Patriarchatsdebatte eine große Rolle, selbst in Kleinstädten bilden sich nun autonome Frauengruppen und die Szene organisiert sich in Männer- und Frauenplena. Natürlich hat es, wie auch in der Sponti-Linken schon immer eine Frauenorganisierung gegeben, von Frauen, die sich auf die – mit welchem Adjektiv auch immer versehene – Linke bezogen, und von welchen, für die »die Linke« kein besonderer Adressat oder Partner politischen Handelns war. Wichtige Kommunikationsorgane der radikalen Frauenbewegung sind neben den damals noch existierenden lokalen und regionalen Frauenzeitungen vor allem die Zeitschriftenprojekte anagan (1984-1985) und AmaZora (1990-1995). Von Bedeutung ist auch die militante Gruppe »Rote Zora«, die sich dem Zusammenhang der mittlerweile aufgelösten sozialrevolutionären Guerilla der »Revolutionären Zellen« zuordnet.

Theoretischer Hintergrund der Debatten im Zuge der Anti-IWF-Kampagne ist unter anderem das unterschiedliche Verständnis von Imperialismus, Befreiung und Arbeit. Befreiung im klassisch linken Modell wird als antiimperialistisches Stufenmodell verstanden: Zuerst soll demnach im Bündnis mit der nationalen Bourgeoisie die nationale Befreiung erfolgen und danach erst die soziale. Frauen im globalen Süden und auch Theoretiker_innen des Nordens weisen dieses Modell samt seiner Orientierung auf Lohnarbeit zurück. Sie setzen auf Prozesse der spontanen Gewalt und der Aneignung und Organisierung von unten, auf riots und Brotrevolten. Es entsteht die Vorstellung eines stark feministisch inspirierten »neuen Internationalismus«, der nicht mehr auf die sozialistischen Staaten und die internationale Arbeiter_innenbewegung setzt. Die geplante Zerstörung der Subsistenzökonomien, Migration und die Situation von Frauen geraten nun in das Blickfeld.

… die Frage nach der Organisation des Alltags

In den 1990er Jahren sind die so genannten linksradikalen Organisationsdebatten, nicht nur, aber vor allem der Antifa-Szenen, ein Ausweichversuch auf antipatriarchale Kritik. In ihnen wird ein Politik- und Organisationsmodell verfochten, das sich in seiner historischen Bezugnahme eher auf die Weimarer Republik bezieht und das Aspekte von Versorgung, Reproduktion und widerständiger Existenzsicherung ausblendet. Das Hegemoniale ist und bleibt dort unsichtbar und deshalb unthematisiert.

Autonome Männergruppen sind ebenfalls ein Phänomen der 1990er Jahre, sie bleiben aber marginalisiert. Ihr Ansatz ist ein grundsätzlich herrschaftskritischer und profeministischer. Der in der liberalen Männerszene schwelende Streit, ob man die eigene Männlichkeit wiederentdecken und sogar propagieren oder sich doch an den Forderungen der Frauenbewegung orientieren solle, spielt kaum eine Rolle. Auf den Libertären Tagen 1993 in Frankfurt am Main, einem von Anarchist_innen organisierten, aber von vielen Autonomen besuchten bundesweiten Kongress, nehmen über 100 Männer am Männerplenum und an Arbeitsgruppen teil, der öffentlich verkaufte Männerrundbrief erscheint 1993 das erste Mal. is 2002 werden 17 Ausgaben produziert und erscheinen in unregelmäßigen Abständen.

Für Verwunderung, wenn nicht sogar scharfe Kritik sorgt bei anderen Linken immer wieder der Stil der autonomen Debatten über Patriarchat. Sie seien von Moralismus durchzogen und zu scharf und schroff, würden in ihrer Kritik am Verhalten einzelner zu wenig deren Prägung durch die gesellschaftlichen Strukturen berücksichtigen. Die radikale Linke ist zu wenig gewohnt und darin geübt, mit Widersprüchen umzugehen, Ambivalenzen auszuhalten. Sicher liegt dies berechtigterweise auch daran, dass diejenigen, die plötzlich davon reden, es sei alles umstritten und ach so widersprüchlich, meist auf dem Marsch in den Enddarm der Sozialdemokratie sind. Anderseits hat die radikale Linke kaum Ideen und Utopien für das wilde Leben jenseits von zwei, drei biografischen und kulturellen Lebensentwürfen.

Da ist zum Beispiel der Umgang mit Konsum und Luxus, der auch immer ein Streit darüber ist, was als »privat« angesehen wird. Neigen jüngere Linke manchmal zur Askese, so verwehren andere jegliche Debatte über ihr »privates Bedürfnisniveau«, über das, so ihre Meinung, selbstverständlich nur sie selbst reflektieren können. Beide Positionen sind nicht wirklich befriedigend. Ähnlich ist es mit der Existenzsicherung durch alternative Projekte oder Kooperationen von politischen oder anderen Arbeitskraftunternehmer_innen. Hier bieten sich zwar unter Umständen viele Freiräume um eine hohe Selbstverwirklichung und Zeitsouveränität zu garantieren. Wer aber von seinen Kolleg_innen vor die Wahl gestellt wurde, das noch ausstehende Honorar von 5000 Euro entweder sofort durch einen Betrag von nur 4000 Euro oder in monatlichen Raten zu 250 Euro zu erhalten, was das Risiko des zwischenzeitlichen Scheiterns des Projektes plump auf den Gläubiger abwälzt, wird sich eher an die Mafia erinnert fühlen und sich nach gewerkschaftlich erkämpften Grundrechten sehnen.

Ende der 1990er ist die Akademisierung des Feminismus einerseits unübersehbar. Gleichzeitig beginnt teilweise der Abbau nicht angepasster Räume und Strukturen, die von der Frauenbewegung durchgesetzt worden waren, und die Kommerzialisierung ehemals dissidenter Praxen (Beispiel: Christoper Street Day, Homo-Ehe etc.). Queer wird nun ein wichtiges Wort. Es verspricht die identitätspolitischen Verkürzungen der Schwulen- und Lesbenbewegungen wie die feministischer Bewegungen aufzuheben. Die Verhältnisse durchqueeren, bunt leben, das klingt nicht nur attraktiv, sondern ist es auch. In gewissem Sinne ist das konsequent, denn es macht keinen Sinn, die heterosexuelle Norm-Familie zu kritisieren, wenn sie nicht mehr als das zukünftige Modell gesellschaftlicher und bevölkerungspolitischer Reproduktion gilt und verstanden wird – was langsam sogar die CDU und andere ideologische Staatsapparate anerkennen müssen.

Im Herrschaftsdiskurs verläuft der Streit dann nur noch darüber, ob es volkswirtschaftlich billiger ist, die anfallende Erziehung der Kinder und die Pflege der Alten durch unbezahlte familiäre Frauenarbeit, die eine unter Umständen produktivere Lohnarbeitstätigkeit der Frau verhindert, oder durch niedrig bezahlte personennahe Dienstleistungen organisiert wird.

Schluss

Nach Umfragen fühlen sich heute die Frauen bis ungefähr 30 gleichberechtigt – und sind es vermutlich auch, erst recht im Vergleich zu früheren Generationen. Der backlash kommt erst mit dem Eintritt ins Berufsleben, insbesondere mit der Kinderfrage. Hier zeigt sich die eindeutige Zuschreibung, dass Kinder und auch die dazugehörigen Beziehungen ein »Frauenproblem« sind. Dass – auch linke – Männer eine, wie die Soziologie das nennt, »verbale Aufgeschlossenheit bei gleichzeitiger Verhaltensstarre« in Fragen von Kindererziehung und von Hausarbeit an den Tag legen, kann man und frau sich zwar denken, gleichzeitig ist es aber ein Tabu. Zum einen haben Männer immer noch bessere Chancen auf einen Job und auf den besser bezahlten Job, zweitens ist die Zuschreibung, was richtige und wichtige Arbeit ist – auch in der Linken – immer noch so, dass Versorgungs- und Erziehungsarbeit dazu nicht zählen. Solange sich also am Verhalten und am Begehren der Männer nichts ändert, wird sich auch am Geschlechterregime, der Organisation der Arbeitszeiten und der Erziehung wenig ändern.

Für ein Leben nach dem verhältnismäßigen Schonraum des Studium scheinen sich derzeit nur zwei role models anzubieten: Die romantische Zweierbeziehung mit oder ohne Kind sowie das des/der flexiblen Kinderlosen (vgl. dazu den Beitrag von Iris Nowak). Beide Formen stehen unter dem Zwang der Existenzsicherung in Krisen-Zeiten, sind nicht wirklich überzeugend. Die meisten Linken leben in einer der beiden Formen. Die eine Form dient der jeweils anderen als Projektionsfolie und Utopie: Wünschen sich Leute mit Kindern nichts sehnlicher als endlich mal ein Wochenende ohne Kinder oder auch nur ein Frühstück ohne fünfmaliges Aufstehen, so idealisieren sehr viele Singles oder Kinderlose Kinder und haben Angst davor, ohne Kinder irgendwann noch mehr am Sinn des Lebens zu zweifeln. Verrückte Welt, aber doch nur ein Aspekt des Umstandes, dass kollektive Formen von Kinderbetreuung schwer zu realisieren sind.

Geschlechterverhältnisse oder patriarchale Strukturen in linker Theorie und Praxis sind kaum ein Thema mehr (oder täuscht da mein Eindruck?), wenn mensch von den kontinuierlich wiederkehrenden Debatten um Vergewaltigung, Definitionsrecht oder auch um mackerhaftes Verhalten im politischen Alltag absieht. Die Spitzen des Eisbergs des sexualisierten Alltags sind ständig Thema, der Alltag selbst, seine (Re)Produktion aber eher nicht. Debatten, die um Kinder und die damit zusammenhängenden Fragen kreisen, gibt es in der von bestimmten Alterskohorten geprägten linken Szene kaum, wer Kinder hat, muss halt sehen wie er und sie damit zurechtkommt. Die Organisation der Reproduktionsarbeit wird ebenfalls nicht thematisiert. Kinder sind ein Grund für Isolation. Aber gleichzeitig schaffen sie die Notwendigkeit, dass sich die (ihre!) Eltern aus dem linken Subszenen herausbewegen und mit Kindergarten, Turngruppe und Elternbeirat umzugehen lernen.

Alternatives Wohnen, kollektives politisches Arbeiten und dann einsames Altern? (Anna Blank). Ist dieses von einer guten Bekannten von mir vorgetragene biographische Phasenmodell die Entwicklung, die den heute über 30-jährigen Linken Sorgen bereitet, vor der sie Angst haben? Flüchten deswegen immer noch viele in eine reale oder herbeigewünschte Zweierbeziehung, als Schutz vor den Unbilden des neoliberalen, und doch irgendwie grauen Alltags? Die Familie (wieder) als Hort, ganz klassisch, da man sich auf das Wohnkollektiv oder die Polit-Gruppe eh nicht verlassen kann? Während 2004 in 71 Prozent aller Haushalte in der Bundesrepublik, in Großstädten sind es noch mehr, nur noch eine oder zwei Personen gemeldet sind?

Was »Mann« und »Frau« bedeutet, wird tagtäglich neu festgelegt und ausgehandelt. Mischen wir die todlangweilige kulturelle Grammatik der Restlinken etwas auf! Die Verhältnisse im Sinne von Queer in Frage zu stellen ist mehr als notwendig. Patentrezepte gibt es nicht. Die bisherige queere Praxis ist aber vor allem ein subkulturelles Programm kleiner Minderheiten in der Szene. Die tägliche Produktion des Lebens (Negri) und die damit verbundenen Zwänge zur Existenzsicherung über Geld werden dabei aus den Augen verloren. Die Debatten über Minderheiten und Abweichungen bestätigen nur die Normalität und den Zwang zu ihr. Die Transgender-Debatten der radikalen akademischen Linken sind in dieser Hinsicht nichts viel anderes als die Talkshows im Nachmittagsfernsehen. Wie traditionell die Geschlechteridentitäten und Rollenzuweisungen immer noch sind, lässt sich nicht nur in Lesbenkrimis, sondern auch – was z. B. Kinderbetreuung angeht – an jedem Nachmittag auf jedem Spielplatz der Berliner Republik besichtigen …

Bernd Hüttner

 

*.credits

Anna Blank, Richard Heigl, Antje Krueger und Gottfried Oy.

 

*.ref
arranca! 33, Andere Umstände – zwischen Rebellion und Rente, darin u.a. B2H2: When I´m 44 – Kinder, Altwerden und das linke Leben

AutorInnenkollektiv GegenBeziehungen: Aber Dich gibt´s nur einmal für mich. Eine Kritik an romantischen Liebesbeziehungen, Br., Erfurt 2001

beiträge zur feministischen theorie und praxis, Heft 66/67: Wer schreibt, der bleibt. Die neue Frauenbewegung, 240 S., Köln 2005.

Boudry, Kuster, Lorenz (Hg.): Reproduktionskonten fälschen! Heterosexualität, Arbeit und Zuhause, b_books, Berlin 1999.

Chronik der Neuen Frauenbewegung. <http://www.frauenmediaturm.de/Die_Chronik.html> Letzter Aufruf: 3.12.2005.

Connell, Robert W.: Der gemachte Mann. Krise und Konstruktion von Männlichkeiten, Opladen 1999.

Hüttner, Bernd, 2005: »Täglich grüßt das Murmeltier«, in: Richard Heigl, Petra Ziegler, Philip Bauer (Hg.): Kritische Geschichte. Perspektiven und Positionen, Leipzig, 115-132 (gekürzt auch in arranca! 29 und Journal der Jugendkulturen 10).

Jagose, Annamarie: Queer Theory. Eine Einführung; Querverlag, Berlin 2001.
Precarias a la deriva: Erste tastende Schritte. Das Projekt »Precarias a la deriva«, <http://www.sindominio.net/karakola/precarias/ precarias-fertig.htm> Letzter Aufruf: 9.12.2005. Erscheint auch in M. Pieper, T. Atzert, S. Karakayali, V. Tsianos (Hg.): Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri, Frankfurt a.M./New York 2006.

Die Ritterinnen, Film, 2003 (Buch und Regie: Barbara Teufel).

Sexismus im autonomen Alltag am Beispiel az heidelberg; Heidelberg o.J. (1992).

Spannbauer, Christa: Das verque(e)re Begehren. Sind zwei Geschlechter genug?, Diametric Verlag, Würzburg 1999.