diskus 1/01

Willkommen Europa, Good-Bye Afrika!!!1

»No queremos excluidos, ni privilegiados«2
(Kirchenbesetzung, Vallekas, Madrid)

Seit dem 23. Januar 2001 besetzen nicht registrierte MigrantInnen gemeinsam mit MigrantInnen mit Papieren und spanischen StaatsbürgerInnen verschiedene Kirchen im spanischen Staat. Anlass hierfür gab die zeitgleiche Einführung des neuen Ausländergesetzes.

Das neue Gesetz regelt systematisch die Anwerbe- und Abschiebepolitik. Es sieht die Rekrutierung von Arbeitskräften nach Länderkontingenten, d.h. eine quotierte Einwanderungspolitik, vor, welche auf Grundlage des jeweiligen Arbeitskräftebedarfs der autonomen Regionen errechnet werden. Katalonien ist zum Beispiel aufgrund der weiterhin prosperierenden Tourismus- und Agrarindustrie auf eine hohe Zahl von ArbeitsimmigrantInnen angewiesen. Für die Aufenthaltserlaubnis reicht jedoch der angemeldete Bedarf der Wirtschaft nicht aus, sondern die AntragstellerInnen müssen bereits über einen Arbeitsvertrag verfügen. Erst dann besteht die Möglichkeit, eine befristete Arbeitserlaubnis zu erwerben. Im Falle einer Ablehnung sieht das neue Ausländergesetz eine Ausweisung binnen 48 Stunden vor. Neu ist auch die sys-tematische Einführung von Internierungslagern, wie ich weiter unten ausführen werde. Außerdem verbietet das neue Ausländergesetz als Reaktion auf die seit Anfang der 90er Jahre funktionierende politische Selbstorganisation von MigrantInnen den nicht registrierten MigrantInnen jegliches Versammlungsrecht oder die Mitgliedschaft in einer Organisation. Dies trifft vor allem die Bewegung der »sin papeles«, der MigrantInnen ohne Papiere, die sich das Recht auf Protest jedoch ganz offensichtlich nicht verbieten lassen. Eine dieser Besetzungen (»encierro«) fand in Vallekas, einem traditionell linken Arbeiterstadtteil in Madrid, statt. Anfang März besuchte ich dieses »encierro« und konnte mit einigen der BesetzerInnen sprechen.

Wege in die Europäisierung
»Al inmigrante rico, turismo; al pobre, expulsión«3
(Kirchenbesetzung, Vallekas, Madrid)

Als ich den Raum der BesetzerInnen in Vallekas betrete, treffe ich auf eine Gruppe von AktivistInnen, die das von der Queer-Politik erklärte Ende der Identitätenpolitik nie zu ihrem Thema gemacht haben, jedoch jenseits von Identitätenpolitik arbeiten. In Vallekas begegne ich dem Versuch einer Bündnispolitik, die Stadtteilgruppen wie »Las Madres contra la droga« (Mütter gegen Drogen), MigrantInnenorganisationen, wie die Gemeinschaft marokkanischer MigrantInnen, GewerkschaftlerInnen, linke Abgeordnete, au-tonome Gruppen, MigrantInnen ohne Papiere und einzelne BewohnerInnen des Stadtteils vereinen. Am 17. Februar organisierten die-se Gruppen eine Demonstra-tion gegen das neue Ausländergesetz, 100 000 schlossen sich dem Aufruf an. Überall im Land begann sich Widerstand zu regen. In Bar-celona protestierten 150 000 auf den Straßen. Die Besetzungen begannen hier zeitgleich mit Inkrafttreten des Gesetzes. Im Laufe des Februar kam es zu weiteren Besetzungen in Madrid, Valencia, Murcia, Almeria und Lepe (Huelva). An einigen Orten wurde der Protest in Form eines Hungerstreiks geführt. Der aufflammende Widerstand brachte die spanische Regierung dazu, 60 000 Anträge bereits abgelehnter ImmigrantInnen erneut zu prüfen. Im März und April begann die PP (Partido Popular) Regierung, Verhandlungen mit den BesetzerInnen aufzunehmen.

Auch in Madrid haben Verhandlungen Ende April angefangen, jedoch nur mit den Gewerkschaften und einigen anderen Nichtregierungsorganisationen (NROs) ohne die ImmigrantInnen, die den Protest angeführt haben. Die BesetzerInnen Vallekas fordern daher die Gewerkschaften und NROs auf, die Verhandlungen zu verlassen, solange die ImmigrantInnen nicht am Tisch sitzen. Unterdessen wirbt die sozialistische Oppositionspartei für einen Pakt der großen Parteien, um die Einwanderungspolitik auf einer breiteren Basis zu diskutieren. Im Zentrum der neuen »Ley de Extranjeria« (das neue Ausländergesetz), so Amaia, eine der BesetzerInnen Vallekas, stehen die EinwanderInnen ohne Papiere. Amaia arbeitet als Rechtsanwältin und hat zusammen mit Kollegen eine Kanzlei für MigrantInnen im Anerkennungsverfahren gegründet. Sie bezeichnet das neue Ausländergesetz als Verstoß gegen die Genfer Flüchtlingskonventionen und macht darauf aufmerksam, dass die Internierung von nicht registrierten ImmigrantInnen in Abschiebelagern nun systematisch eingeführt worden ist. Zur Zeit existieren drei dieser Internierungs-lager in Spanien, in denen die Flüchtlinge bis zu ihrer Ausweisung eingesperrt werden. Ihr »unvermeidliches Verschulden« ist es, keine Papiere zu haben und daher nicht »identifizierbar« zu sein. Der spanische Staat hat sich damit den europäischen Abschiebe- und Internierungspraktiken von MigrantInnen angeglichen. Auf dem Wege zur »vollendeten Europäisierung« rüstet er sich mit kolonialem Habitus für den globalisierten Weltmarkt.

Seit Einführung der ersten ausländerrechtlichen Bestimmungen 1985 modifiziert der spanische Staat kontinuierlich seine Migrationsbestimmungen. Ziel ist es, die EU-Richtlinien, die in den Amsterdamer Verträgen festgeschrieben wurden, umzusetzen. Vor dem Beitritt Spaniens zur EU kannte der Staat weder eine syste-matische Ausländergesetzgebung noch eine aktive Einwanderungspolitik. Als ehemaliger Kolonialstaat pflegte er bilaterale Einreiseabkommen mit Latein-amerika und einigen afrikanischen Ländern. Wenn in der spanischen Öffentlichkeit von Migration die Rede war, waren bis dahin spanische Emigranten, also die ArbeiterInnen aus Andalusien, Galizien und der Extremadura gemeint, die ab Mitte der 1950er Jahre nach Frankreich, in die Schweiz oder die Bundesrepublik auswanderten.

Seit dem Beitritt Spaniens zur EU und der Einführung des Ausländergesetzes ist die Unterscheidung zwischen »legalen« und »illegalen« Ausländern institutionalisiert. Mit der Institutionalisierung ging die Einrichtung einer Kontroll- und Regulierungsstelle einher. Die Generalverwaltung für Migration ist für die Bewilligung oder Zurückweisung von Aufenthaltsanträgen zuständig. Das Amt wurde im Rahmen der Modifizierung des Ausländergesetzes 1991 geschaffen. In diesem Zusammenhang führte der spanische Staat die »Regularisierungskampagnen«, bekannt als »política de cupo«, ein, in deren Rahmen nicht registrierte EinwanderInnen bei Nachweis eines Arbeits- und Mietvertrages sowie einer bestimmten Aufenthaltsdauer eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhielten. Aufgrund dieser Kampagnen verfügt der Staat über Daten von »legal« und »illegal« lebenden EinwanderInnen (López García / Ramírez 1997: 43).

Bezeichnenderweise kommt die größte MigrantInnengruppe aus westlichen Ländern.4 Diese Gruppe ist jedoch nicht gemeint, wenn im öffentlichen Diskurs von den »inmigrantes« die Rede ist. Sie sehen sich auch nicht mit körperlicher und verbaler Gewalt im Alltag konfrontiert. EinwandererInnen dieser Gruppe genießen ein sicheres Aufenthaltsrecht, da sie oft aus EU-Staaten kommen, ein Großteil aus der Bundesrepublik. Doch während sie gern gesehen werden und bestimmte Rechte erhalten, werden den nicht registrierten ImmigrantInnen fundamentale Menschenrechte abgesprochen. Sie genießen keinerlei Bewegungsfreiheit, bei Festnahmen ist es ihnen untersagt, rechtlichen Beistand einzuholen, das bürgerliche Recht auf Versammlungsfreiheit wird ihnen abgesprochen. Auch der Vorsatz des Sozialstaates, seinen BürgerInnen ein Recht auf Bildung und Gesundheit zu gewähren, gilt für sie nicht. Die moralische und juridische Instanz der Familie und der Kindheit im bürgerlichen Recht als Orte der Geborgenheit und des Schutzes wird in Bezug auf MigrantInnen und Flüchtlinge ausgehebelt. Das Recht auf Familienzusammenführung, das in Spanien seit 1993 für MigrantInnen existiert, können MigrantInnen ohne Papiere nicht für sich beanspruchen, Minderjährige genießen keinen Schutz vor Abschiebungen.

Nicht zuletzt hat der tragische Fall »Lorca«5 Anfang des Jahres zu einer Verschlechterung der Arbeitsmöglichkeiten für MigrantInnen ohne Papiere geführt, erzählt mir Oscar, ein weiterer Besetzer in Vallekas und Mitglied der organisierten ecuadorianischen MigrantInnen ohne Papiere. In Lorca, nahe Murcia, ereignete sich Mitte Januar ein Unfall, in dem acht ohne Papiere in Spanien lebende EcuadorianerInnen auf dem Weg zur Arbeit umkamen. Die Medien warfen sich auf dieses Ereignis und thematisierten die »brutalen Unternehmer«, die den »kaltherzigen Menschenhändlern« gleichzusetzen seien. Innenminister Mayor Oreja nahm diesen Vorfall zum Anlass, im Zuge des neuen Ausländergesetzes den Unternehmern bei der Einstellung von Arbeitskräften ohne legalen Aufenthalt mit hohen Bußgeldern zu drohen. Dies blieb nicht nur eine Drohgebärde, sondern wurde ebenfalls im Rahmen des neuen Ausländergesetzes institutionalisiert.

Sexismus und Rassismus
Die Ausländerpolitik des spanischen Staates sieht sich bis heute mit einem starken Widerstand konfrontiert, der jedoch von einer Minderheit getragen wird, einer Minderheit, die sich aus Einzelleuten und Gruppen aus einem linken bis liberalen Spektrum zusammensetzt. Schon Anfang der 90er Jahre organisierten sich angesichts des rassistischen Mordes an einer dominikanischen, nicht registrierten Migrantin und den Todesfällen afrikanischer EinwandererInnen an der Straße von Gibraltar dominikanische und marokkanische MigrantInnen gegen die Migrationspolitik. Sie machten die menschenverachtenden Lebensbedingungen, in die sie in der Illegalität gedrängt werden, publik. Die Reaktionen auf die rassistischen Pogrome des Mob in El Ejido (Almeria) 1999 brachten Wohnverhältnisse ans Tageslicht, die im modernen und sich für den Euro rüstenden Spanien nicht zu existieren schienen. Die in den Treibhäusern arbeitenden Migranten aus Nordafrika lebten in Höhlen zu dreißig, ohne Wasser und Licht. Der vielbeschworene spanische Aufschwung hat sich zweigleisig entwickelt. Ein Stück spanischer Geschichte scheint sich zu wiederholen. Der andalusische Tagelöhner, der zu Zeiten Francos bei einer unberechtigten Mitnahme einer Melone vom Großgrundbesitzer erschossen werden konnte, ist durch den marokkanischen Immigranten ersetzt worden, dessen Präsenz Anlass zu Spekulationen gibt und der, sollte er hegemoniale Normen und Regeln übertreten, mit rassistischer Gewalt sanktioniert wird. Dies war auch der Fall, als ein junger Marokkaner im Frühjahr 1999 auf offener Straße ermordet wurde. Der Grund für den aufgebrachten Mob war die Vermutung, er habe eine junge »spanische« Frau sexuell belästigt. Eine Hexenjagd auf die marokkanische Community und alle sozialen Hilfsorganisationen entbrannte. Ein Versatzstück kolonialer Geschichte schimmerte auf. »El moro« (»der Maure«), der Prototyp einer rassistischen Konstruktion des Arabers als »triebhafter, wilder und unzivilisierter Mann«, beschäftigte die öffentliche Meinung.

Die rassistische Konstruktion des »moro« verweist auf zwei grundlegende Ereignisse in der Nationbildung Spaniens: das Christentum und den Kolonialismus.6 In der spanischen Historiographie wird dies sichtbar mittels historischer Überlieferungen und kultureller Zeugnisse. Nicht nur allein, dass die Kreuz-züge architektonisch zelebriert wurden, indem Kathedralen auf Moscheen und arabische Paläste gebaut wurden7, sondern auch literarische Figuren wie »El Cid« wurden zum nationalen Held erklärt. »El Cid« im Gegensatz zu »el moro« steht für das Projekt der katholischen kastillisch-spanischen Nation. Er verkörpert den Sieg der Kastillier insbesondere über die arabischen Kalifate. Er taucht als Retter der Zivilisation auf, so wird in einigen Liedern erzählt, wie er christliche Prinzessinnen aus den Klauen der feindlichen Araber befreite. Gerade in diesen Liedern läßt sich ein rhetorisches Muster ausmachen, das heute reaktiviert wird: die Konstruktion des »arabischen Mannes« als Bedrohung für den »spanischen Mann«. Der »arabische Mann« transportiert das Bild des »rücksichtslosen« und »gewalttätigen Übertreters«. Frauen spielen in dieser Auseinandersetzung eine entscheidende Rolle. Sie werden als »Eigentum« der Männer konstruiert. Dabei wird zwischen den »arabischen« und den »spanischen« Frauen unterschieden. Im Alltagsdiskurs transportiert das Konstrukt der »arabischen Frau« das Moment der Unterwerfung und Unfreiheit. Sie seien von ihren Männern eingesperrt und dürften öffentlich nicht agieren, so der Alltagsverstand. Die »spanische Frau« dagegen sei modern, erwerbstätig und öffentlich aktiv. Vor dem Hintergrund der rassistischen Übergriffe in El Ejido wurde der aufgebrochene Konflikt zwischen den MigrantInnen und dem Mob auch von progressiven Stimmen in diesen Bedeutungskontext gesetzt. Ein »interkultureller Konflikt« sei hier aufgebrochen. Denn, so diese Stimmen, die Migranten können mit der Bewegungsfreiheit der »spanischen Frau« nicht umgehen. Einige Frauen bestätigten dies und fühlten sich insbesondere von arabischen Männern sexuell belästigt.

Sexismus ist eine wahre Geschichte. In den letzten Jahren ist das Thema Gewalt gegen Frauen in der spanischen Öffentlichkeit verstärkt diskutiert worden. Hintergrund hierfür waren die Ermordung mehrerer Frauen durch ihre Ehemänner und Freunde. Dabei wurde die Gewalt gegen Frauen nicht als strukturelles Phänomen diskutiert, sondern durch die Benennung einzelner Männer und einzelner Orte partikularisiert. Diese Auffassung ermöglicht zwischen »guten« und »bösen« Männern zu unterscheiden und stellt im spanischen Kontext zur Zeit eine Dichotomie zwischen »Spanier« und »Araber« her. Die Thematisierung von sexistischer Gewalt mittels der Figur des »arabischen Mannes« rationalisiert gleichzeitig rassistische Gewalt. Die Verschmelzung von rationalen und irrationalen Momenten, die durchaus historisch besetzt sind, wie das koloniale Erbe und die damit einhergehenden Konstruktionen von Welt und Mensch, bleiben bei der Eingrenzung von Gewalt gegen Frauen auf eine partikulare Gruppe von Männern unberührt. Nur eine Gruppe von Männern scheint für die Gewalt gegen Frauen verantwortlich zu sein, während eine andere Gruppe sich berufen fühlt, sie zu beschützen. Frauen werden zu Objekten degradiert, ohne Handlungs- und Widerstandsmöglichkeiten.

Klar ist, dass sich Frauen gegen ihre Mißachtung und Gewalt in der Familie, am Arbeitsplatz, in Beziehungen, in politischen Gruppen und auf der Straße organisieren müssen. Klar ist aber auch, dass diese Organisierung nicht gegen eine spezifische Gruppe gehen kann, sondern gegen die Situationen und die Strukturen, die Diskriminierung hervorbringen und in denen sie sich ereignet. Denn als strukturelles Moment ist Gewalt gegen Frauen nicht an einem einzigen Ort auszumachen, sondern durchzieht die Ebene der Beziehungen, der Institutionen und der Diskurse. So können wir auch in Repräsentationen antirassistischer Politik sexistische Konnotationen finden (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2000).

Widerstand und Selbstorganisation – ein feminstisch queerer Antirassismus
»En este lugar no se acceptan comportamientos homofóbicos o lesbofóbicos. Por ello invitamos a las lesbianas y gays a comportarse con toda libertad.«8
(Kirchenbesetzung in Vallekas, Madrid)

Die BesetzerInnen Vallekas haben diese Dynamik erkannt. In ihren zahlreichen Vollversammlungen arbeiten am Koordinationstisch die gleiche Anzahl von Frauen und Männern nach dem Rotationsprinzip. Bei den Männern handelt es sich vorwiegend um Migranten ohne und mit Papieren. Der Migrantinnenanteil der BesetzerInnen ist in Vallekas gering. Dies stellt jedoch keinen allgemeinen Zustand dar. In Barcelona fand eine reine Frauenbesetzung statt. Die meisten Frauen in Vallekas sind spanische StaatsbürgerInnen oder Migrantinnen mit Papieren. Sie gehören eher dem Kreis der UnterstützerInnen an, bilden jedoch eine entscheidende Kraft bei Mobilisierungsaktionen und der Schaffung einer Infrastruktur. Einige sprechen von neuen Allianzen zwischen feministischen, queeren und MigrantInnengruppen. Die Thematisierung von Sexismus und Homophobie steht auf der Tagesordnung, ohne dabei Rassismus und die privilegierte Position weißer, spanischer StaatsbürgerInnen unter den Tisch zu kehren. Die offene und ungeschminkte Art, mit der über gesellschaftliche Positionen, Zugänge zu Ressourcen, aber auch Begegnungs- und Anerkennungsbeziehungen gesprochen wird, versetzt mich in Begeisterung. Alle wissen, dass die gemeinsame politische Arbeit nicht konfliktfrei ist, dass der biographische Hintergrund sehr unterschiedlich ist und private Interessen durchaus ausgehandelt oder angefochten werden können. Doch trotz der Differenzen teilen sie die gemeinsame Empörung über die menschenverachtende Migrationspolitik und den imperialen Gestus des spanischen Staates.

Es wird nicht über die MigrantInnen gesprochen, sondern MigrantInnen führen die Diskussion. Sie wehren sich gegen die Instrumentalisierung ihrer Lebenssituation, sei es durch den vorherrschenden Medien- und Politikdiskurs oder den Alltagsverstand, der auch in einigen basisdemokratisch organisierten Gruppen zu finden ist. Es geht um die Rechte der MigrantInnen, wie Nofisa, eine marokkanische Migrantin mit Papieren und Besetzerin Vallekas, betont. Nofisa betrachtet den »encierro« als Möglichkeit, einen Raum als Migrantin selbst zu bestimmen. Sie berichtet wie MigrantInnen erfolgreich mit den verschiedenen Formen der Objektivierung, denen sie tagtäglich begegnen, brechen. Sie seien aber nicht per se die zukünftigen revolutionären Subjekte. Unter ihnen würde eine Vielfalt politischer Meinungen und Haltungen existieren, die durchaus konträr zueinander stünden. Es wäre eher die aktuelle Lage, die sie zusammenbrächte und einen Bewußtseinsprozess in Gang setze, der jedoch nicht das Aufkommen eines emanzipativen Subjekts bei allen an den »encierro« Beteiligten garantiere. Gleichzeitig wehren die MigrantInnen sich gegen die Porträtierung als reine Opfer der Verhältnisse, so Nofisa. Ihre Lebenssituation ließe zwar diese Schlussfolgerung zu, da sie sich auf der Spitze von institutioneller und alltäglicher Gewalt befinden. Doch daraus auf eine totale Unterwerfung zu schließen ohne jegliche Widerstandsstrategien und subjektiven Handlungsmöglichkeiten, verkenne sie als Subjekte.

Politik kann nach Meinung von Nofisa nur in Form von Praxis stattfinden und diese birgt in sich Konflikte und Auseinandersetzungen sowie die Wahrnehmung der AkteurInnen als Subjekte. Eine politische Plattform kann sich nur so herstellen, dass sie sich entlang politischer Forderungen organisiert und die Macht der Repräsentation und Definition öffentlich thematisiert, ohne dabei den unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergrund der Beteiligten und ihre Differenzen unreflektiert zu lassen. In diesem Zusammenhang ist die Achse zwischen Rassismus und Sexismus eine weitere, die nicht nur die Situation der MigrantInnen durchzieht, sondern auch den Raum der BesetzerInnen in ihren Differenzen.

Das Koordinations- und Verhandlungskomitee setzt sich nur aus MigrantInnen mit und ohne Papiere zusammen. Sie treten in der Öffentlichkeit als ihre eigenen politischen VertreterInnen auf. Sie konstituieren sich aber nicht als »die Betroffenen«. Denn betroffen sind alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Die Gewalt, die gegen MigrantInnen ausgeübt wird, sehen die spanischen BesetzerInnen von Vallekas als eine Gewalt an, die auch gegen sie vorgeht. Zwar erfahren spanische StaatsbürgerInnen, solange sie weiß sind, keine direkte rassistische Gewalt und somit keinen Alltagsrassismus. Doch die Gewalt, die MigrantInnen erfahren, konstituiert ihre Position als Mitglieder der hegemonialen Gruppe und führt zu Privilegierung bzw. Einverleibung in den hegemonialen Konsens. Und mit dem wollen alle in Vallekas brechen. Betroffenheit meint hier also nicht nur die Erfahrung von Diskriminierung, sondern die Einverleibung in ein Gewaltsystem, das asymmetrische und sich konstituierende Positionen herstellt und zementiert.

Die politische Praxis ist jedoch von der jeweiligen gesellschaftlichen Position bestimmt. So ist der Zugang zu Medien und Ämtern eher bei den spanischen StaatsbürgerInnen gegeben, wie diese sich auch die Schaffung einer Infrastruktur zur Aufgabe gemacht haben. Gemeinsam ist ihnen aber das Ziel: »Papeles para tod@s«.


Encarnación Gutiérrez Rodríguez


Zur aktuellen Situation der Besetzungen siehe www.sinodominio.net

] 1 [ Für Kommentare und Kritik möchte ich Christoph Pilgrim und Eva Hartmann danken.
] 2 [ Übersetzung, EGR: »Wir wollen keine Ausgeschlossenen und keine Privilegierten.«
] 3 [ Übersetzung, EGR: »Dem reichen Immigranten der Tourismus, dem armen die Abschiebung.«
] 4 [ Sie lassen sich in der Region um Madrid, Barcelona, Malaga und Alicante und den Küstengebieten der Balearen und auf den Kanarischen Inseln nieder. Dagegen leben die meisten EinwanderInnen aus Afrika, Asien und Lateinamerika in den Metropolen sowie in den Agrargebieten Andalusiens und Kataloniens. 30 % von ihnen leben in Katalonien (Izquierdo 1992).
] 5 [ Lorca ist eine Ortschaft der Region Murcia.
] 6 [ Noch hält Spanien die in Marokko liegenden Städte Ceuta und Melilla besetzt. In der Stadt Ceuta ist eine Mauer gebaut worden, die insbesondere die marokkanischen EinwohnerInnen daran hindern soll, spanisches Territorium unbefugt zu betreten, ein Versuch, die marokkanische Einwanderung nach Spanien schon in Marokko einzudämmen.
] 7 [ Beispiele hierfür gibt es zahlreiche, zwei sehr bekannte sind die »Mezquita« in Córdoba und die »Alhambra« in Granada.
] 8 [ Übersetzung, EGR: »An diesem Ort wird kein homophobes oder lesbophobes Benehmen geduldet. Daher laden wir Lesben und Schwule ein, sich ungezwungen zu bewegen.«

txt:
¬ Izquierdo, Manuel (1992): La inmigración en Es-paña. Madrid.
¬ López García, Bernabé / Ramírez, Angeles (1997): España es diferente? Balance de la inmigración magrebi en Espanha. En: Migraciones, Nr. 1, Madrid. S. 41 – 72.
¬ Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (2000): »My favorite clothes are sweat-shirts and jeans.« In: European Institute for Progressive Cultural Policies (Hg.): KulturRisse. Nr. 2, Wien.

Forderungen der BesetzerInnen in Vallekas
* ! * die sofortige Legalisierung aller ImmigrantInnen
* ! * Stop aller Ausweisungen
* ! * Schluss mit polizeilichen Verfolgung
* ! * Abschaffung des Ausländergesetzes
* ! * Anerkennung aller sozialen und zivilen Rechte für alle Menschen
* ! * Bereitstellung des Zugangs zu Wohnung, Bildung und Gesundheit

Dazu haben sie zu zwei Kampagnen des zivilen Ungehorsams aufgerufen, ziviler Ungehorsam gegenüber dem Ausländergesetz und ziviler Ungehorsam seitens derjenigen, die das neue Gesetz exekutieren sollen.

Von allen Bediensteten im öffentlichen Dienst wird gefordert,
* ! * alle MigrantInnen ohne Einschränkungen anzumelden
* ! * jegliche öffentliche Leistungen oder anderweitige finanzielle Unterstützung an MigrantInnen unabhängig von ihrem Status zu vergeben

Alle EinwohnerInnen werden aufgefordert,
* ! * sich der Auskundschaftung des Ministerium für Innere Angelegenheiten zu verweigern
* ! * keine Auskünfte über MigrantInnen weiterzuleiten

LehrerInnen, SozialhelferInnen und UniversitätsdozentInnen werden aufgefordert,
* ! * Fördermaßnahmen in den Dienst von MigrantInnen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus zu stellen
* ! * Bildungsmöglichkeiten und die Erlangung von Schulabschlüssen zu fördern

Fachverbände, Vereine und Gewerkschaften werden aufgefordert,
* ! * MigrantInnen als Mitglieder aufzunehmen
* ! * MigrantInnen in den Vorstand zu wählen