Der Schleier vor
Feministische Analysen und die Konstruktion des Fremden im Diskurs um den 11. 9.
I.
In
der Auseinandersetzung um die Anschläge auf das WTC am 11. September haben sich
die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Linken als unvereinbar gezeigt
und stehen sich in ihren Analysen als gefestigte Pole gegenüber. Dabei wurden
unterschiedlichste Weltbilder der AntiimperialistInnen, Antideutschen,
WertkritikerInnen, FriedensaktivistInnen usw. ausgepackt und unter dem
jeweiligen »Hauptwiderspruch« gegeneinander gestellt. Stereotype werden
reproduziert, deren Konstruktionscharakter und pauschale Zuschreibungen schon
seit Jahren – vor allem von MigrantInnengruppen – als westliche Projektion
aufgedeckt und kritisiert wurden, was an dieser Stelle exemplarisch anhand
feministischer Debatten aufgezeigt werden soll.
Auf
feministischer Seite gab es nur wenige sichtbare Versuche, sich an der Debatte
um den 11. September zu beteiligen. Der Einsatz für Frauenrechte muss mit einer
Vereinnahmung von »offizieller« Seite rechnen: Wurden im Jugoslawienkrieg
Massenvergewaltigungen als moralische Rechtfertigung für einen Kriegseinsatz
benutzt, werden in Afghanistan die von radikalen Islamisten unterdrückten
Frauen entdeckt, um den Krieg gegen die Taliban zu legitimieren und ihn als
einen Kampf für Menschenrechte und Demokratie darzustellen. So Bundeskanzler
Schröder: »Wer die Fernsehbilder von den feiernden Menschen in Kabul nach dem
Abzug der Taliban gesehen hat – ich denke hier vor allen Dingen an die Bilder
der Frauen, die sich endlich wieder frei auf den Straßen begegnen dürfen –, dem
sollte es nicht schwer fallen, das Ergebnis der Militärschläge im Sinne der
Menschen dort zu bewerten.« Nach dem Sturz des Talibanregimes trat das
Interesse an der Situation von Frauen wieder in den Hintergrund. Dass heute
noch fast alle Frauen Burkas tragen, scheint niemandem aufzufallen. Die
Medienbilder haben ihre Funktion längst erfüllt. Wenige Bilder, meist von genau
einer Frau mit hochgeklappter Burka in einer Gruppe ansonsten verschleierter
Frauen, zeigten uns, was wir sehen wollten: entschleierten Frauen, um ihre
»Befreiung« durch die Militärschläge zu beweisen. Bilder von Frauen bestimmen
den »Grad der Zivilisation« eines Landes, wobei Zivilisation mit »dem Westen«
gleichgesetzt ist. Hat die »unverschleierte Würde des Westens« (Spiegel 52 / 01) nun endlich auch den fernen Osten
erreicht oder werden Frauen die abgeworfenen Miniröcke (statt Bomben, Vorschlag
von M. Houellebecq) bloß unter ihren Burkas tragen können?
Einem
eher bürgerlichen Frauenspektrum ging es vor allem darum, gegen den Krieg zu
demonstrieren und sich für die Rechte der Frauen in Afghanistan einzusetzen.
Mit Argumenten wie »Die Geschichte Afghanistans zeigt: Reine Männerherrschaft
deformiert eine Gesellschaft; Fundamentalismus lässt sich nur besiegen, wenn
die Frauen gestärkt werden« wird ein überholt geglaubter Feminismus
reaktiviert. »Alles Ambivalente und Abweichende geriet zur Bedrohung einer
wackeligen, unreifen Männlichkeit, die sich nur über Kampf und Krieg zu
stabilisieren wusste. Männer, denen andere Männer Verstand und Gefühle
verschleiert haben, die um Leben, Lust und Glück betrogen wurden, können zu
Killern werden, Opfer und Täter zugleich.« (Ute Scheub, taz 29. 11. 01) Einen
weiteren ›geschlechtsspezifischen‹ Beitrag leistete Klaus Theweleit, der die
Doppeltürme des WTC als Doppelphallus, als »doppelte(n) Schwanz, der sich als
mächtiges Symbol erhebt« und den Anschlag als »Tritt in die Eier« (taz 19. 9.
01) bezeichnet. Die These des »Tritts zwischen die Beine«, des
innerpatriarchalen Kampfes des »Mackertums im Sandkasten« (Claudia Bernhard;
alaska 10 / 2001) wird jedoch auch aus radikal-linkem Spektrum vertreten. Dabei
hat sich aus der Geschichte der Frauenbewegung und -forschung gezeigt, dass die
Kategorie Geschlecht als alleinige Analysekategorie zu kurz greift, weil andere
Unterdrückungsmechanismen und Herrschaftsverhältnisse ausgeblendet und dadurch
reproduziert werden.
II.
Die
Reduktion auf die Unterdrückung durch patriarchale Strukturen (verkörpert im
»Wir Frauen« der 70er Jahre) provozierte eine massive Kritik seitens Schwarzer
Frauen, Jüdischer Frauen, Migrantinnen, Women of Color, Lesbischer Frauen etc.,
die sich durch diesen Feminismus nicht repräsentiert fühlten. Rassistische oder
heterosexistische Unterdrückung war für viele Frauen relevanter als die
universelle Patriarchatsthese; eine Bündnispolitik mit weißen, hetero-
sexuellen
Frauen stellte einen erneuten Kolonisierungsversuch dar. Ignorant gegenüber
anderen Strukturmerkmalen wie z. B. Klasse, »Rasse« / Ethnie, Religion
tendierten diese ausgesprochen westlichen Konzepte von Unterdrückung
gleichzeitig dazu, eine »Dritte Welt« oder einen »Orient« zu konstruieren,
wobei Geschlechter-Unterdrückung subtil als symptomatisch für eine essentielle
nicht-westliche Barbarei erklärt wurde. Die paternalistische Sicht auf die
Schwarze »Schwester« als Opfer der Verhältnisse wurde als Ausdruck der
hegemonialen Definitionsmacht weißer Frauen kritisiert, diskutiert wurde die
Mitverantwortung weißer Frauen an rassistischen und antisemitischen
Gesellschaftsmustern. Ein rein positiver Bezug auf Frauen blendet aus, dass
Frauen selbst in gesellschaftliche Macht- und Ausbeutungsverhältnisse
verstrickt sind, Täterinnen sein können und von bestehenden Verhältnissen
profitieren. In einigen feministischen Analysen wird der passive Opferstatus
der Frau auch heute noch aufrechterhalten. Der für Frauen reklamierte
Opferstatus verschiebt die Schuld auf das Patriarchat und entlastet in der
Solidarisierung mit anderen Opfern. Dieser Mechanismus zieht sich durch die
Geschichte der »westlichen« Frauenbe-
wegung.
Im
bundesdeutschen Kontext, der durch die Nichtwahrnehmung der BRD als
Einwanderungsland gekennzeichnet ist, wurde die »Ausländerin« als »defizitäres
Wesen« gegenüber dem eigenen Selbst konstruiert. Die Position weißer, deutscher
Feministinnen als moderne, emanzipierte, westliche Frau hat sich durch Abgrenzung
von der »fremden Frau, die noch nicht so emanzipiert« ist, definiert und
gestärkt. Die Produktion von Fremdheit dient der Herrschaftssicherung. Als
scheinbar faktisch Dif-
ferentes
gesetzt wird das »Fremde« als Projektionsfläche bzw. Spiegelbild des Selbst
geschaffen und festgeschrieben. Das herrschende Selbst erlangt so die
Definition und Kontrolle über das Andere. Das als gesellschaftlich Andere
Gesetzte ist Teil binärer Oppositionspaare (wie Natur / Kultur, Barbarei /
Zivilisation), die das gesamte abendländische Denken durchziehen. Sie
beinhalten zugleich eine Hierarchisierung und sind damit in ein Macht- und
Beherrschungs-
system
eingebettet bzw. produzieren es. Zentral ist
das
darin implizierte Differenzdenken und die Ausgrenzung der/s als AndereN GesetzteN.
Mit diesem identitätslogischen Denken verbunden ist ein totalisierender
Universalismus, der vereinheitlicht und ka-
tegorisiert,
indem er zuordnet. Eine Zweiteilung in eindeutige Dichotomien verursacht
künstliche Trennungen und verschleiert die Vereinnahmung von Uneindeutigkeit.
Der Umgang mit Differenz lässt sich
so
als gesellschaftsimmanenter struktureller Unterdrückungs- und
Ausschlussmechanismus analysieren. Es ist genau dieser inhärente Mechanismus,
der sich mit dem Einzug der Moderne etablierte und ausdifferenzierte, der zum
zentralen Gegenstand poststrukturalistischer oder dekonstruktivistischer
Gesellschaftskritik geworden ist. (Dies scheint ein Teil der Linken seit dem
11. 9. zu vergessen, wenn sie unkritisch das Glücksversprechen der Moderne
anpreisen.)
Erst
Ende der 70er Jahre tritt die »ausländische Frau« in der BRD als
Arbeitsmigrantin oder »Gast-
arbeiterin«
unabhängig vom allgemeinen Migrationsdiskurs in Erscheinung, z. B. im Bild der
»kinderreichen, muslimischen, unterdrückten Türkin«, der so-
zialarbeiterisch
geholfen werden muss. Ihr Selbstverständnis und Lebensbedingungen wurden
zumeist auf der Grundlage eines grundlegenden (Kultur-)
Unterschieds
bzw. mit der Dichotomie Tradition / Moderne erklärt. Selten wird der Rassismus
in Deutschland als konstitutives Element migrantischer Lebenssituationen in
eine Analyse miteinbezogen. Für die Thematisierung von Rassismus waren und sind
meist MigrantInnen zuständig, das Thema bleibt ein »Sonderfall« auch innerhalb
feministischer Forschung. Erst 1991 erschien in Deutschland in der Reihe
Beiträge zur feministischen Theorie und Praxis der Band »Geteilter Feminismus«,
wo fast einheitlich festgestellt wurde, dass im weißen Feminismus Rassismus,
Migration und Antisemitismus bisher keine Themen waren.
Hinter
den Bildern der »muslimischen Frau« lässt sich ein altbekanntes Muster
erkennen: die Konstruktion eines »Orients« als westliche Projektionsfläche. Mit
Beginn des 19. Jh. wurden Orientalinnen in der Malerei, in der Literatur etc.
als exotisch und erotisch besonders anziehend dargestellt. Das geheimnisvol-le
Haremsleben wurde in zahllosen Reiseerzählungen ausgiebig geschildert und
ausgeschmückt, wo-
bei
diese vielmehr Aufschluss über die erotischen Phantasien des weißen westlichen
Mannes geben dürften als über den »wahren« Orient. Die fremde Frau wurde zum
Inbegriff des Begehrens. Dieses Interesse für eine unbeherrscht ausgelebte
»orientalische« Sexualität muss dabei im Kontext der damaligen Sexualitätsnormen
Europas gesehen werden. Handlungen, die damals offiziell verboten waren,
konnten auf diese Weise phantasmatisch in den Orient verlagert werden. Das
Ideal der europäischen Frau als keusch, zurückhaltend, kultiviert etc. blieb
unangetastet bzw. wurde dadurch gestärkt. Es gibt in den Diskursen der
Jahrhundertwende ein Thema, das sich bis in unsere Zeit durchzieht: die
Feststellung, dass sich die Orientalin in einer hoffnungslos unterdrückten Lage
befindet und dass der Westen sie aus dieser Situation erlösen müsse. So zählt
»die türkische Frauenfrage« seit der Jahrhundertwende zu einem »Lieblingsthema
der Deutschen« (M. Akkent / G. Franger 1987: Das Kopftuch – Basörtü).
Orientzeitschriften, Boulevardzeitschriften oder deutsche Frauenzeitschriften
äußern sich zu der Frage, wie die türkische Frau sich aus ihrer Lage
emanzipieren könne. Zu den unumstößlichen »Wahrheiten« über die Orientalin
gehört auch (neben ihrer »Schönheit«) die symbolische Veräußerung ihrer
Unterdrückung durch das Kopftuch oder den Schleier.
Dieses
»Orientalismusparadigma« (H. Lutz 1992: Rassismus und Sexismus, Unterschiede
und Gemeinsamkeiten) hat an Erklärungspotential und Aktualität nichts verloren.
Orientalismus steht dabei für die »fundamentale Andersartigkeit des Orients
gegenüber dem Westen«. Der Islam wird zu einem dominanten Erklärungsprinzip für
die Unterdrückung der Frau erhoben, wobei implizit und explizit die christ-
liche,
westliche Kultur den unmarkierten Maßstab
bildet.
Es gibt bei türkischen Frauen heute ganz
unterschiedliche
Motive für das Tragen eines Kopftuchs (vgl. Franger / Akkent), bei vielen
gehört es einfach zur Kleidung und hat keine religiöse oder poli-
tische
Bedeutung oder es wird bewusst als Zeichen von Autonomie und Widerstand
getragen. Dies wird hierzulande jedoch kaum als ernstzunehmende Wahl
dargestellt.
Das
Kopftuch ausschließlich als Symbol für patriarchale Unterdrückung und
Religiosität zu sehen, hat auch innerhalb der weißen deutsche Frauenbewegung
Tradition, vor allem in Abgrenzung zum Islam oder zu »den Musliminnen« als
scheinbar homogener religiöser Gruppe. Innerhalb der »Kopftuchdebatte« hat sich
besonders die Zeitschrift Emma mit stereotypen Zuschreibungen hervorgetan. Auch
die Beliebtheit des Buchs »Nicht ohne meine Tochter« von Betty Mahmoody (1988),
die Debatten um die Anstellung einer Lehrerin mit Kopftuch im Schuldienst oder
die Emma-Sondernummer zum Golfkrieg (1991) sind in diesem Kontext zu
betrachten. Dort heißt es: »Eine zerfetzte Jeans anziehen, sich die Haare gelb
oder blau färben, das sind Befreiungsakte ge-
gen
die geltenden Konventionen. Aber seine Haare unter einem Kopftuch verstecken,
das ist ein Akt der Unterwerfung. Er überschattet das ganze Leben einer Frau.«
(E. Badinter) Fatima Mernissi wird vorgestellt als eine »moderne Scheherazade«.
Sie ist »im Harem aufgewachsen, hat in den USA studiert und lehrt heute als
Soziologieprofessorin in Rabat. Ihre Mutter war Analphabetin und ging
verschleiert. Die Tochter hat nie einen Schleier getragen und in all ihren
Büchern dagegen gekämpft. In ihrer Wohnung stehen ein Computer und ein Fax.«
Kopftuchträgerinnen werde zu »Marionetten von Männerbünden«. (alles in Emma
1991)
Die
immense Bedeutung und die Aversionen gegen das Kopftuch verleiten vielmehr zu
Rückschlüssen auf dessen konstitutive Bedeutung für die weiße Frauenbewegung
als auf die Bedeutung, die es für die Trägerinnen selbst hat. Scheinbar
benötigen »unsere« Vorstellungen und Bilder von westlicher und moderner
Emanzipation immer wieder die Vergewisserung und damit die Rekonstruktion der
Unterdrückung und Rückständigkeit der Anderen – der »islamischen Frau«. »Denn
die Hierarchie zwischen einheimischen und eingewanderten Frauen wird wesentlich
über den Emanzipationsdiskurs abgesichert. Das hat zur Folge, dass Emanzipation
vielfach mit ethnischer Privilegierung verwechselt wird.« (B. Rommelspacher,
taz-dossier zum 8. 3. 02)
III.
Diese
scheinbar alten Kopftuch-Debatten erlangen neue Wichtigkeit, da einige der
rassistisch konnotierten Bilder und Argumente – unter dem Vorzeichen weiblicher
Emanzipation oder der Rettung des zivilisierten Abendlandes – in den
Auseinandersetzungen um den Krieg in Afghanistan wieder auftauchen. Nach dem
11. 9. werden Frauen und Mädchen mit Kopftuch in der BRD verstärkt wahrgenommen
und diskriminiert. Kopftuch = Islam = Unterdrückung = Gefahr, so lautet die
reflexartig einsetzende Assoziationskette. Der Islam gerät zum neuen Feinbild,
zur scheinbar äußeren Bedrohung unserer Werte, die es gemeinsam zu verteidigen
gilt und uns darin alle zu »Amerikanern« (oder Deutschen) werden lässt. Ohne
die unterschiedlichen Formen der Verschleierung gleichzusetzen (dies käme einer
Verharmlosung von Burka oder Taliban gleich), geht es an dieser Stelle um die
Symbolik von Verschleierung, um die Bilder, die im aktuellen Diskurs aktiviert
und funktionalisiert werden. Es geht um eine differenzierte Positionierung
jenseits eines Pendelns zwischen paternalistischer Viktimisierung bzw.
rassistisch konnotierten Bildern der »Orientalin« und kulturrelativistischen
Positionen, die letztendlich handlungsunfähig machen.
Das
Kopftuch als Symbol wird insbesondere in der Medienpräsenz der verschleierten
Frau bzw. der entschleierten und damit ›befreiten‹ Frau aufgegriffen.
(Bezeichnender Weise hat Emma nicht nur Artikel sondern sogar das Titelblatt
der Golfkriegsausgabe für das Heft nach dem 11. 9. – nach dem Motto »Wir haben
es schon immer gewusst« – wiederverwendet). Die Zeitungen waren voll mit
Bildern afghanischer »unsichtbarer« Frauen, die es zu befreien galt. Doch
welche Assoziationen werden bei uns selbst geweckt, wenn der Ganzkörperschleier
gelüftet wird: das Geheime und Verbotene kommt zum Vorschein, und – welch
Überraschung – eine wunderschöne ganz und gar nicht barbarisch aussehende
»Orientalin« steckt darunter. Eine Verschränkung von rassistischen und
sexistischen Konstruktionen wird deutlich: Das »Andere« wird nicht nur zum
angstbesetzten Verworfenen, das das eigene Selbst bedroht, sondern auch zum
exotisierten und erotisierten Begehrensobjekt. Das zum »Fremden« und
»Unzivilisierten« homogenisierte Andere bleibt jedoch nicht im fernen
Afghanistan, sondern bedroht uns potentiell im eigenen Land. Nur so ist es
möglich, dass der nach Multikulti-Manier wohlintegrierte ausländische Student
oder Computerinder, im nächstem Moment zur größten Gefahr für die innere
Sicherheit in Form eines potentiellen »Schläfers« werden kann. In den hiesigen
Medien werden Bilder des »gefährlich Fremden« und Nichtintegrierbaren – z. B.
in Form einer Frau mit Kopftuch (bspw. Spiegel 24. 9. 01, S. 52 oder Berliner Zeitung
20. 3. 02, S. 6) – innerhalb der Diskurse um Innere Sicherheit und Einwanderung
genutzt, um sog. Sicherheitspakete und massive Einschränkungen der
AusländerInnen- und Bürgerrechte durchzusetzen.
Aus
antirassistischer und postkolonialer Perspektive wird das Kopftuch auch als
Möglichkeit des Widerstands gegen den Assimilationszwang in die deutsche weiße
Leitkultur interpretiert und damit als widerständige Emanzipationsmöglichkeit,
als »Schleier vor der exotisierten Konsumierbarkeit der Anderen«. Die schleiertragenden
Migrantinnen entziehen sich der Sichtbarkeit und exotisierenden, erotischen
Konnotation des westlichen männlichen Blicks und repräsentieren das gefährliche
nicht integrierbare Fremde. Die Migrantinnen besetzen das Symbol der Fremdheit
für sich positiv und fordern selbstbewusst eine Integration, indem sie z. B.
eine Anstellung in den Staatsdienst einfordern. Und insofern – das zeigen auch
die em-pört-aggressiven Reaktionen – lösen sie eine »Krise der hegemonialen
Repräsentation aus, wie sie gerade über die Massenmedien vermittelt wird.« (M.
Terkessidis 1999: Globale Kultur in Deutschland) Das Kopftuch einzig als
Gegenbild und Provokation der deutschen Norm anzusehen, greift jedoch zu kurz,
das Geschlechterverhältnis wird dabei ausgeblendet. Nur der weibliche Körper
wird verhüllt und damit wieder markiert.
Debatten,
die sich mit dem politischen Islam beschäftigen, sind nicht per se als
rassistisch zu bewerten, jedoch können sie schnell zu solchen werden, bedient
man sich der herkömmlichen Stereotypen, die Unterschiede und innere
Widersprüche verschwinden lassen und einheitliche Gruppen konstruieren. Das
angeblich Differente wird immer wieder aufs Neue geschaffen und als scheinbar
homogene Gruppe dargestellt: die »Ausländer«, die »Türken«, die »Moslems«. Nur
die »Deutschen« erscheinen so als differenziert, individualistisch, tolerant
etc., was die eigenen Konstitutionsbedingungen verschleiert. Allein das
»Stückchen Stoff« Kopftuch hat gezeigt, wie verschiedene Machtverhältnisse
miteinander verknüpft sind, in welchen unterschiedlichen Kontexten und auf
unterschiedlichen Ebenen sie wirkungsmächtig werden.
Differenzen
existieren nicht im luftleeren Raum, sie bezeichnen strukturelle
(Macht-)Verhältnisse. Daher ist eine Kritik von Phänomenen wie z. B. des
politischen Islams und seinem unbestrittenen antisemi-
tischen
Gehalt zwar unerlässlich, jedoch muss der
historische
Kontext (Kolonialismus, Orientalismus, Rassismus), die eigene Verwobenheit in
unterschiedliche Machtverhältnisse und der eigene Sprechort (Weißheit,
AngehörigeR der Dominanzkultur) und die gesellschaftspolitische Relevanz
(bezogen auf den bundesdeutschen Kontext z. B. Migrationsdiskurs, Innere
Sicherheit) mitgedacht werden. Der Islam definiert sich nicht bloß über eine
Negation der Moderne oder durch religiöse Traditionen. Vielmehr beinhaltet der
Islam sowohl Anknüpfung als auch Kritik am westlichen Projekt der Moderne und
ist nicht reduzierbar als dessen Antipode.
Eine
feministische Analyse muss immer in Bezug zum »Außerhalb« gedacht werden, weg
von einer internen Feminismusdebatte hin zu den »externen« Kontexten. Dazu
gehört nicht nur eine Analyse weiblicher Unterdrückung, sondern auch
antisemitische, rassistische und hegemoniale Strukturen in diese mit einzube-
ziehen
und die Verwobenheit der eingenommenen Perspektiven und Aussagen innerhalb
eines sozia-len / ökonomischen, historischen und diskursiven Raums zu
betrachten. Für eine radikale Linke ergibt sich die Notwendigkeit, sich ihrer
Partikularität bewusst zu werden statt sie zu leugnen, und sie als solche
auszuweisen statt sie erneut zu universalisieren. Eine Kritik wird durch die
Einsicht in die Komplexität der Machtverhältnisse nicht verunmöglicht, sondern
könnte sich neue Impulse und Anknüpfungspunkte schaffen. Mit neuen Polaritäten,
vereinfachten Feindbildern und eindimensionalen Analysen wird das sicher nicht
gelingen.
Anette
Dietrich, Andrea Nachtigall