diskus 1/98

[Wissensethos Typ Millenium]
Bildung im System 2

»Viele junge Leute verlangen seltsamerweise, ›motiviert‹ zu werden, sie verlangen nach neuen Ausbildungs-Workshops und nach permanenter Weiterbildung, an ihnen ist es zu entdecken, wozu man sie einsetzt ... «
G. Deleuze (Postskriptum über die Kontrollgesellschaften1)

Re-engineering the Wissensmodule:
Die neoliberale Erlösung vom Hochschulreformstau

»Die Chancen sind da. Wo bleiben Sie? Werden Sie schneller, flexibler, produktiver«
(Telekom-Werbung)
Über die üblichen kleinen Verwirrungen, die Studierenden-Demos gewöhnlich hervorrufen – Wo kommen bloß all die Westerwellen her? –, war der Streik im letzten Semester Anlaß zu weitergehender Irritation. Denn die Frage, welches Bildungs- und Gesellschaftskonzept als Hintergrund der verschiedenen »Reformvorschläge« fungiert, wie dies zu bewerten ist und was diesem evtuell entgegengesetzt werden könnte, schien immer wieder in der Debatte um konkrete Maßnahmen und der allgemeinen Betroffenheit über die »Krise des deutschen Hochschulsystems« untertauchen zu wollen. Diese Situation, wie in der FR geschehen, einfach durch die Theoriefeindlichkeit der »98’er« zu erklären, verdeckt die Effekte und Wirkungsweise eines herrschenden Diskurses – mögen wir ihn »neoliberal« heißen –, der das Politische in einem ökonomischen Realitätsprinzip aufgehen läßt und so nur zwei Optionen offenzulassen scheint: den »realistischen« Kampf – heiß und ungeduldig auf die eigenen Chancen in einer globalisierten Welt – Telekom, ich komme! Spürst Du mich? – und die vermeintlich idealistische Variante – die sich selbst nicht ganz geheure Träumerei von einem allgemeinen Recht auf Bildung, die sich in einem stets schon von ökonomischen Kriterien gezeichneten Gebiet abspielt.

Die neoliberale Hochschulreform trägt in einem doppelten Sinn das Gesicht nüchterner Realität und inhaltlicher Neutralität. Erstens scheinen die Reformvorschläge nicht auf normativen Beurteilungen zu beruhen, sondern geben sich als notwendige Konsequenz des globalen Wettbewerbs, der ein umfassendes re-engineering des Standorts Deutschland erfordere. Zweitens sollen die Reformen gerade nicht von oben durch inhaltliche Vorschriften »staatlich verordnet werden, sondern sich im Wettbewerb aller Hochschulen entwickeln.«2 Das Ziel scheint lediglich eine formale Reorganisation des »Hochschulmanagements« zu sein, die durch die Vergrößerung der Autonomie der Hochschulen ein System schafft, in dem sich die Auswahl der Lehr- und Forschungsinhalte freiheitlich nach den »Bedürfnissen der Beteiligten« herstellt. Durch diese beiden Schachzüge stellt sich die neoliberale Reformpraxis nicht neben andere Vorschläge, sondern bildet auf einer anderen Ebene – als bloß administrative Exekution von Sachzwängen – den »realistischen« Rahmen, in dem das »Wünschenswerte« auf die »harten Fakten« trifft: »Eine breite, auch geisteswissenschaftliche, Ausbildung ist ein Segen; sie muß allerdings finanzierbar sein.«3

In diesem naturalistischen Facelifting schreibt sich eine alte Geschichte: »...die Macht wirkt, aber nur indem sie sich verbirgt und sich als Realität präsentiert.«4 Der neoliberale Diskurs zielt auf die Ausweitung des Anwendungsbereichs der ökonomischen Begrifflichkeit auf alle Phänomene der Gesellschaft. Das ökonomische Analyseinstrumentarium fungiert zugleich als universales Metavokabular, in das alle anderen Beschreibungsweisen zu übersetzen sind, und als übergeordnete Bewertungsinstanz, an der alles gemessen wird. Der ökonomischen Begrifflichkeit stehen nicht mehr andere »Sprachspiele« mit ihrer spezifischen Gesetzlichkeit und ihren eigenen Bewertungsmaßstäben gegenüber, sondern das gesamte menschliche Handeln und Verhalten wird in den Kategorien von Angebot und Nachfrage, Input- und Outputrelationen sowie Konkurrenz beschrieben. Die Aufgabe der Hochschulen bestimmt sich so von ihrer Marktfunktion her als Transfer von innovativen Forschungsergebnissen und Funktionseliten, die durch den Erwerb praxisorientierter Informationen und das Erlernen von flexiblen Wissensverarbeitungstechniken für den globalen Wettbewerb gerüstet sind, in die Wirtschaft.

Für diese Art von Beschreibung sozialer Prozesse dient das Unternehmen als paradigmatisches Modell, an dessen Bewertungskriterien auch die Universitäten zu messen sind:

»Die Leitungs- und Managementstrukturen der Hochschulen entsprechen nicht den betriebswirtschaftlichen Anforderungen, die heute an die effiziente Führung eines Dienstleistungsbetriebs dieser Grössenordnung zu stellen sind. Herkömmliche Gremienstrukturen behindern den Einsatz moderner Managementverfahren und eine ergebnisorientierte Effizienz.«(HfJ)

Durch »Deregulierung«, »Entstaatlichung« und »Umstellung der staatlichen Mittelzuweisung auf eine leistungorientierte Finanzierung« (HfJ) soll auch an den Universitäten eine »effiziente und flexible« Konkurrenzstruktur geschaffen werden. Die Finanzverteilung – und damit auch die Entscheidung über die Inhalte von Lehre und Forschung – ist dementsprechend durch den Wettbewerb zwischen den Universitäten sowie hochschulintern – im Kampf um StudentInnenzahlen und Anerkennung von »außen« – zu regeln.

Wissen wird dabei zu einer quantifizierbaren Größe, die als »schnell veraltender Rohstoff« (HfJ) ein Verfallsdatum und einen bestimmten Marktwert hat: So wird an der Entwicklung eines »virtuellen Campus« gearbeitet, der aus dem »modularisierten« Wissen ein Best-of-Vorlesungen-weltweit zusammenstellt, das möglichst schnellen Zugriff auf praktisch verwertbare Informationen erlaubt und eine Marktwertbestimmung von Bildungsfragmenten ermöglicht – derzeitige Preisvorstellungen: circa 10 bis 15 Mark pro 25 minütige Lerneinheit.5 In dieser weitreichenden Umwandlung des Bildungsbereichs in einen Dienstleistungssektor werden »ökonomisch uneffiziente«, nicht marktkonforme und kritische Wissenschaften tendenziell keinen Platz haben und gezwungen sein, sich schon im Ansatz an dem Kampf um Kunden auszurichten.

Das pluralistische Aussehen des Neoliberalismus, der nur die – verschieden ausfüllbare – Form einer allgemeinen Effizienz und den organisatorischen Rahmen, in dem die Entscheidung über die verschiedenen Bildungsvorstellungen und Bedürfnisse gesellschaftlich ausgehandelt werden können, bereitzustellen scheint, erweist sich so als ein reduktionistisches Unternehmen. Gegen die Vielzahl unterschiedlicher Metavokabulare und Beschreibungsweisen, mit ihren je eigenen Regeln und Maßstäben, soll eine universale Bewertungslogik durchgesetzt werden.

Die »freiheitlichen Organisationsformen« bilden dabei neue Formen der Subjektivierung, die ohne Verbot und Ausschluß auskommende Kontrollmechanismen zeitigen:

»Der Neoliberalismus inauguriert neue Freiheiten, indem er prinzipiell alles gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen überlässt. Man kann über alles reden – unter der entscheidenden Vorraussetzung, dass sich diese Verhandlungen allein auf dem Boden von Kosten-Nutzen-Kalkülen bewegen.(...) die neoliberalen »Freiheiten« (ermöglichen) durch diese Beschränkung auf das »Realistische« neue Formen von Kontrolle, die weder über autoritäre Repression noch über wohlfahrtsstaatliche Integration operieren.«6

Es ist nicht nötig, die Individuen in den von Foucault in Überwachen und Strafen beschriebenen verschiedenen Einschließungsmilieus der Disziplinargesellschaften wie Schule und Fabrik festzustellen und zu disziplinieren, wenn die unternehmerischen Kleinst- einheiten durch Selbstregulationstechniken funktionieren. Subjekte werden zu Akteuren auf den verschiedenen Märkten von Beruf, Freizeit und Privatbeziehungen, wo sie ihre Konsumwahl nach Gewinn ausrichten sowie sich als Produkt anbieten – Humankapital, in das es geschickt zu investieren gilt. Bill-Gates-Unternehmen kommen im Vergleich zu klassischen Fabriken mit weit weniger Reglementierung in Vorschriften und Verboten aus. Große Freiräume (flexible Arbeitszeiten), Eigenverantwortung (Teamwork, flache Hierachien – »Hi, hier ist der Bill, ich hab’ da ein Problem!«), Motivation (Prämien) und Leistungsdruck (Konkurrenz) erreichen durch die ständige Forderung nach »Optimierung« des Verhältnisses zur eigenen Arbeit gerade ohne expliziten Zwang eine Maximierung des Nutzens. Durch Leistungskontrolle an jedem Punkt (»credit point system«) wird schon in der Ausbildung diese – strukturell paranoide – Subjektivierung der Selbstobjektivierung möglich gemacht.

Statt der verschiedenen Einschließungen der Individuen in durch Verpflichtungen geregelte, diskontinuierliche Zwangsapparate, die immer wieder momentane »Freisprüche« erlaubten, schafft die dividuelle Verstreuung auf unterschiedlichsten Märkten eine kontinuierliche Kontrolle, die nicht mehr zwischen Arbeit und Freizeit (fit for fun) unterscheidet und sich im unbegrenzten Aufschub fortschreibt: während das klassische Ausbildungssytem auf einen Abschluß zielte, mit dem der/die Einzelne einen bestimmten Status erreicht hatte, wird in der neoliberalen Bindung des Bildungsbegriffs an marktangepaßte Qualifizierung Lernen zur lebenslangen Aufgabe, die sich auf allen Märkten des Lebens stellt. Den Hochschulabschlüssen soll daher – im Falle fehlender Weiterbildung – von vorneherein ein Verfallsdatum eingeschrieben werden, das entsprechend der Halbwertszeit des jeweiligen Wissens festzulegen ist.7 Vorbildfunktion haben dabei die Konzepte des telematischen Lernens, die das Studium in ein »Online-Training« – tägliche Fitnessübung für den gleichzeitig ausgeübten Job – verwandeln. Diese kontinuierliche Verschmelzung von Arbeit und Ausbildung ermöglicht so schon während der Ausbildung eine den »Fähigkeiten« entsprechende Verteilung und Eingliederung der Fachkräfte in den Arbeitsmarkt.

Hatten die Parolen der Disziplinargesellschaften einen klaren Ort und Anwendungsbereich, kennen die Losungen der »ultraschnellen Kontrollformen mit freiheitlichen Aussehen«8 dagegen kein Ende und kein Außen, sondern durchziehen – quasi ortlos und superflexibel – alle Handlungsbereiche des Menschen mit der ständigen Aufforderung der Selbstmodulation: »Wo willst du hin? – Überallhin...Leben heißt unterwegs sein... Laß dich drauf ein.« (Hugo Boss-Werbung).

Die Weichheit und kontinuierliche Verstreuung dieser Kontrollmechanismen macht eine einfache Verweigerung unmöglich. Daher gilt es, gegen den ökonomischen Reduktionismus und die neoliberalen Selbstregulationstechniken, die irreduzible Vielheit anderer Beschreibungspraktiken und Wertmaßstäbe einzusetzen und andere Formen der Subjektivierung zu erarbeiten:

»Was das Wertsystem des Kapitalismus letztlich ungültig macht, ist sein Wesen als allgemeines Äquivalent, das alle anderen Bewertungsweisen niederwalzt, womit sie schließlich seiner Hegemonie entfremdet werden. Es wäre zweckmäßig, dieser Situation Bewertungsinstrumente wenn nicht entgegenzusetzen, dann allerwenigstens zu überlagern, die sich in den existentiellen Erschaffungen begründen, die weder als Funktion einer abstrakten Arbeitszeit noch eines durchdiskontierten kapitalistischen Profits bestimmbar sind. Neue ›Wert‹-Börsen, neue kollektive Beschlüße sind zur Entstehung aufgerufen, die auch den individuellsten, eigenartigsten und dissensuellen Unternehmungen eine Chance geben ... «9

Für einen (anderen) Bildungsbegriff10
Der Hochschulstreik im vergangenen Winter zeichnete sich durch die Fixierung auf eine enge Programmatik von Forderungskatalogen aus. Wichtiger wäre die rahmensetzende Orientierung eines wünschenswerten »Bildungs«-Begriffs, dem das Verlangen nach wirklich diversen »Wert«-Börsen bereits implementiert wäre.11

Vorweg der zentrale Gedanke: In Anlehnung an Michel Foucault versuchen wir »Bildung« neuzuschreiben als die Ausbildung eines »Wissensethos«, verstanden als eine spezifische, prozessual verfaßte Haltung des Selbst gegenüber sich und, zugleich, gegenüber der Pluralität der Wissen.

Der vermittels Wissensethos markierte ›Bildungs‹-Begriff ist nicht zu trennen von einer bestimmten Weise, in der das Feld Bildung – Wissen – Subjekte – gesellschaftliche Formation beschrieben wird: Es ist eine Beschreibung, die unterstellt, daß alle Entitäten gesellschaftlicher Wirklichkeit durch ihre Relationen bestimmt werden, in denen sie zu anderen Entitäten stehen. Nichts ist, was es ist, weil sein Wesen es so will, sondern weil es in einem komplexen gesellschaftlichen Gefüge so geworden ist – insofern wandelbar bleibt. Unter ›Entitäten‹ sind sowohl ›Dinge‹ und Akteure, aber v. a. auch Praktiken zu verstehen, da in einer relationalen Beschreibung kein Element von seinen Praktiken zu isolieren ist: Es wird kein Bild eines gesellschaftlichen Feldes entworfen, sondern ein Spiel (Diskurs) beschrieben, so daß interessant v. a. die Spielzüge sind und erst vermittels dieser die Spielfiguren.

Drei Aspekte zeichnen nun das Feld Bildung/Wissen: Wissen, Macht und Subjektivierungsweise. Wissen läßt sich bestimmen als »alle (die) Erkenntnisverfahren und –wirkungen, die in einem bestimmten Moment und in einem bestimmten Gebiet akzeptabel sind.«12 Insofern Wissen so als untrennbar von den Weisen seiner Praxis verstanden wird, erweist es sich nicht als den Standards einer ewigen Wahrheit unterworfen, sondern als stets verschränkt mit Macht-Mechanismen, d. h. Verhältnissen, die in ihren Effekten Antworten liefern auf Fragen wie: Wer kann/darf/soll sprechen? Worüber? Wie? Wozu?13 Das bedeutet, daß sich z. B. auch Kriterien und Wertmaßstäbe nur im Zusammenhang mit solchen Gefügen (Régimen des Wissens) konstituieren und wirksam werden und ihnen nicht vorgängig sind.

Schließlich fügt sich in das Geflecht der Diskursformation als ein Drittes die Subjektivierungsweise ein: Was es heißt, ein erkennendes Subjekt, ein ausgebildetes, ein lernendes oder ein qualifiziertes Subjekt zu sein und welche Eigenschaften und Praktiken je damit verbunden sind, wird bestimmt durch die Beziehungen und Relationen, in die das Subjekt innerhalb der Wissensrégime getaucht ist.

Dieses Szenario vorausgesetzt, läßt sich Haltung nun bestimmen als » ... eine Form der Beziehung zur Aktualität; eine freiwillige Wahl verschiedener Menschen; schließlich eine Art des Denkens und Fühlens, auch eine Art des Handelns und Verhaltens, das zu ein und derselben Zeit eine Beziehung der Zugehörigkeit ist und sich als Aufgabe darstellt.«14

Haltung wäre demnach eine Weise, wie sich die Beziehungen des Subjekts zu seiner diskursiven Umgebung gestalten. Da das Subjekt bzw. die Subjektivierungsweisen aber nur immanent, gleichursprünglich oder korrelativ zu diesen Beziehungen zu denken sind, stellt Haltung immer auch eine Selbsttechnik dar. Das Subjekt, geworden, was es ist, nur aufgrund und vermittels des Gefüges, in das es integriert ist und aus dem es emergiert, versucht dieses Beziehungsgeflecht auf vielversprechende Weise zu modifizieren. Wegen der Struktur wechselseitiger Abhängigkeit leistet solches Umarbeiten stets zweierlei: eine Modifikation des Subjekts ebenso wie das (günstigenfalls subversive) Neuschreiben der ›Verhältnisse‹, der diskursiven Formation.

Gesetzt, daß es viele Wissen gibt (in bezeichnenderweise rein quantitativer Hinsicht auch als Wissens-›Explosion‹ bestaunt als der Morgenstern einer homogen globalisierten Welt), erlaubte eine ihnen gegenüber operativ-konstruktive Haltung, wirklich diverse und dissensuelle Praxen und Selbstverhältnisse (z. B. andere Weisen, was es heißt, ›sich zu qualifizieren‹, ›qualifiziert zu sein‹) existieren zu machen, welche sich gerade auch durch ihre differenten Kriterien und Wertmaßstäbe (wozu lernen, sich qualifizieren?) bestimmen.

Es geht dabei nicht darum, einer vorgängig gegebenen (humanistischen) Subjektivität ihr Recht widerfahren zu lassen, das Subjekt qua Bildung zu ermächtigen, auf daß sich seine seit jeher schlummernde Persönlichkeit entfalte und es dann selbstbestimmt und autonom sein Geschick gestalte. Die tatsächlich ethische Dimension einer als »Aufgabe« begriffenen Haltung liegt vielmehr in einer Sorge um sich, die dem Subjekt erlauben würde, »die Möglichkeit auf(zu)finden, nicht länger das zu sein, zu tun oder zu denken, was wir sind, tun oder denken.«15 Das Verhältnis der Einzelnen zu und ihre Position innerhalb der Wissen wird somit zu einem der Operatoren und Parameter, vermöge derer das eigene Selbstverhältnis gestaltet wird.

Ebensowenig wird Subjekt hier gedacht als StifterIn des Ursprungs seines Selbst- und Weltverhältnisses – tatsächlich aber spielt das Subjekt jene (Sprach-)Spiele der Subjektivität, die es allererst (unter den je spezifischen Bedingungen bestimmter Diskurse) zu einem (solchen) Subjekt machen: soviel ›Subjekt‹ muß sein, auch diskursiv verfaßten Subjekten ist eine »freiwillige Wahl« möglich!16 In diesem, strikt anti-humanistischen Sinne verstehen wir das Bemühen um Modifikation der Wissensdiskurse als das Bemühen, einem Wissensethos zu folgen. »Bildung« ließe sich so neuschreiben als der unabschließbare Prozeß der Ausbildung und Entwicklung eines solchen Wissensethos; ihr würde ein dezidiert dissensueller Zug eignen, insofern sie und ihre Effekte nicht von vornherein einem gegebenen dominanten Gefüge (z. B. dem Markt, der Moral, etc.) integriert wären.

Schließlich zur vermeintlichen Komplizenschaft von Wissensethos und dem neoliberalen ›Geist des Rucks‹: Wo liegt eigentlich der Unterschied zwischen einem Wissensethos praktizierenden Subjekt und jenem, das sich (vermittels Elite-Uni und Tele-Learning, schlagender Verbindung und Men’s Health...) um ein möglichst anforderungskompatibles Selbstdesign bemüht? Zum einen: Wem ihr/sein Selbstverhältnis in einem starken Sinne problematisch wird, kann es nicht als bloßes Mittel zu vorgegebenen, selbst nicht verhandelbaren Zielen und Zwecken begriffen werden; im Zusammenhang einer unverkürzten Sorge um sich stehen stets auch wirklich diverse Maßstäbe und Kriterien zur Debatte und bezüglich dieser je aktuelle Präferenzen, Wünsche und Ziele: Wunschmaschinen brauchen nicht in Diensten anderer zu stehen! Zum zweiten: Wird die Rede von der Diskursformation als einem relationalen Gefüge ernstgenommen, kann Wissensethos nicht die Weise meinen, in der das monadische Einzelsubjekt seine kleine Welt regiert.17 Sind ›die Verhältnisse‹ schlecht, hierarchisch oder ausschließend, werden die wissensethisch geleiteten Subjekte in Konfrontation mit diesen versuchen, neue Möglichkeiten zu erschließen: Wissensethos wäre daher immer auch eine Spielart jener kritischen Haltung, die darauf zielt, »nicht dermaßen regiert zu werden.«18

Wissensethos würde also mehr bedeuten als einen gepflegten Ekklektizismus gegenüber den Wissensdiskursen: er wäre Teil einer anderen »Art des Denkens und Fühlens, auch eine(r anderen) Art des Handelns und Verhaltens«; gegen die Engführung von Wissens-›Explosion‹ und neoliberalem Ökonomismus, für eine Pluralisierung und Heterogenisierung der Wissensrégime! Die Praxis des Wissensethos wäre eine Fluchtlinie des Neudenkens von ›Bildung‹, eine Idee, auf die hin der Widerstand gegen die ›Reformen‹auszurichten wäre. Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben.19

La Groop By2k

x 1 x G. Deleuze, Unterhandlungen, Ffm. 1993, S. 262 — Englisch auch unter http://www.Desk.nl/~nettime/zkp/deleuze.txt
x 2 x Hochschulen für das 21. Jahrhundert, Jürgen Rüttgers, Bundesministerium für Bildung und Forschung. (im Folgenden abgekürzt als HfJ), http://www.bmbf.de/dokus/hochschul.htm
x 3 x Interview mit H.-J. Bullinger, in: Süddeutsche Zeitung, 24. Januar 1998
x 4 x M. Foucault, Mikrophysik der Macht, Berlin 1976.
x 5 x siehe: Bildung just in time – Online-Hochschule nach amerikanischem Muster in: c`t 3/98
x 6 x T. Lemke, Eine Kritik der politischen Vernunft – Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 1997, S.254-255
x 7 x siehe H.-J. Bullinger; s.o.
x 8 x G. Deleuze, Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: ders., Unterhandlungen, Ffm. 1993, S. 255
x 9 x F. Guattari, Die drei Ökologien, Wien 1994, S. 70 [Übers. modifiziert]
x 10 x Weitere Hinweise auf Il Groopo by2K, Wissensethos und den mit ihm korrelierten Argumentationsgestus finden sich unter: http://userpage.zedat.fu-berlin.de/~comtess/ag-bildung.html
x 11 x Vgl. – zu beiden Punkten – den Berliner BUG-Kongress: http://www.bug.tu-berlin.de/Reader/index.htm
x 12 x M. Foucault, Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 32
x 13 x Zu Wissen, Macht und Subjektivierungsweise vgl.: M. Foucault: Das Subjekt und die Macht, in: Dreyfus/Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Ffm. 1987, S. 241ff.
x 14 x M. Foucault, Was ist Aufklärung? In: Erdmann u. a., Ethos der Moderne, Ffm. 1990, S. 42
x 15 x a. a. O., S. 49
x 16 x Vgl. M. Foucault, Der Wille zum Wissen, Ffm. 1983, S. 117; vgl. a. Deleuzes euphorischere Darstellung der Rolle der Subjektivierung bei Foucault und des Primats des Widerstands in: G. Deleuze, Foucault, Ffm. 1992, S. 124f., 131ff.
x 17 x »Meine kleine Welt, meine warme Stube ... soviel Rüben wie ich kriege, gebe ich auch zurück.« Die Goldenen Zitronen, economy class
x 18 x M. Foucault, Was ist Kritik? Berlin 1992, S. 12
x 19 x Contact Le Groop by2k ! – Mailto: bebuquin@innocent.com