Heft 1/99

StaatsVolksBürgerschaft
Anmerkungen zu Staatsbürgerschaft, Nationalstaat und 'Fremde'

Am 16.11.98 zitierte die FR den neuen Innenminister Otto Schily mit der Aussage: "Die Grenze der Belastbarkeit Deutschlands durch Zuwanderung ist überschritten", und die FAZ vom 3.1.99 titelte: "Stoiber: Rot-grüne Ausländerpolitik – gefährlicher als RAF-Terrorismus". Stoibers Aussage läßt zwei Lesarten zu, die beide miteinander verknüpft sind. Zum einen kann damit der 'Import von Terroristen' qua Einbürgerung gemeint sein, zum anderen kann es sich um eine Anknüpfung an den Rassediskurs handeln: 'Wir', 'die Deutschen', 'das deutsche Volk' werden 'rassisch' unterwandert oder, wie Stoiber vor einigen Jahren explizit formuliert: "durchmischt und durchrasst".

Beide knüpfen an den Topos der "Gefahr" ('terroristische Anschläge' und 'innere Auflösung', 'Belastungsgrenze') an, der politisch handlungsanweisend wirkt: Es muß etwas getan werden – 'das Volk' ist auf die eine oder andere Art bedroht. Auf die diskursive Logik dieser Aussage soll im Folgenden eingegangen werden, wobei die Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft (= SBS) als diskursives Ereignis den Ausgangspunkt bildet, um systematisch und historisch den Zusammenhang von Staat, Identität, Nation, Souveränität und Mehr-/Minderheit zu beleuchten.

Dabei zeigt sich, daß – unabhängig von 'ius soli' und 'ius sanguinis' – in den jeweiligen Verfassungen (Deutschland, Frankreich, USA) die Konstruktion 'Volk' als homogen und einer staatlich-politischen Organisation von Gesellschaft vorausgesetzten ethnischen Gemeinschaft festgeschrieben ist (Behr 1998). Historisch betrachtet vollzog sich ein semantischer Wandel in der Form, daß der Begriff Volk wie auch Nation, die ursprünglich die Bezeichnungen für den dritten Stand zur Zeit der Französischen Revolution darstellten, ethnisch transformiert wurden.

Ursprünglich handelte es sich also um einen politischen Begriff des Volkes, der gegen die Souveränität der Fürsten entwickelt wurde (Vgl. Heckmann 1992, 70). Eine ähnliche Diskursverschiebung hat auch der Begriff der Volkssouveränität erfahren (Vgl. Preuß 1994, 49).

Die semantische Doppelbesetzung des Volksbegriffs, die historisch mit dem politischen Romantizismus des deutschen ethnisch geprägten Nationalismus entstand, spiegelt sich systematisch im Staatsbürgerschaftsbegriff wider, der den Diskurs über universale Menschenrechte immer partikularistisch-national gebrochen hat. In diesem Kontext transportierte die SBS-Debatte das völkisch-ethnische Substrat in der einen wie der anderen Variante (doppelte SBS), da die Funktion einer nationalen Staatsbürgerschaft, die von einem homogenen Volk ausgeht, an sich unangetastet blieb.

Unter Bezugnahme auf Carl Schmitt, Zygmunt Baumann und Michel Foucault kann das heterogene Diskursfeld mit seinen semantisch-historischen Aufladungen aufgezeigt werden, innerhalb dessen die SBS und die Debatte um sie eine spezifische Funktion hat (Reaktualisierung von Topoi wie nationale Volksouveränität, Definitions- und Verfügungsrechte gegenüber 'den Fremden' usw.).


Von "Alpen-Ayatollahs" und "Durchrassung"

Der Begriff "Alpen-Ayatollah", den der Stern (14.1.99) für Stoiber kreierte, diente zur Kennzeichung der 'rassisch-fundamentalistischen' Position, aus der sich dann die Gegenposition eines fortschrittlich und 'ethnisch-offenen' Verständnisses von doppelter Staatsbürgerschaft quasi automatisch ergab. Doch keine der Parteien stellte das Staatsbürgerschaftsverständnis an sich in Frage. Die Konstruktion des Volkes als homogene Einheit vor jeder Staatlichkeit spiegelt sich in dem Verfassungsgrundsatz Art. 20 II Satz 1 GG wider: "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". Mit dem Verweis darauf wurde beispielsweise vom Bundesverfassungsgericht das sogenannte kommunale Ausländerwahlrecht abgeschmettert, und insofern geht das ethnisch-völkische Substrat in die politisch-juristische Entscheidungspraxis mit ein. So hieß es in der Begründung 1990: "Es trifft nicht zu, daß wegen der erheblichen Zunahme des Anteils der Ausländer an der Gesamtbevölkerung des Bundesgebiets der verfassungsrechtliche Begriff des Volkes einen Bedeutungswandel erfahren habe". Auch die Tatsache, daß es sich um eine politische Bestimmung von SBS als "Inhaber demokratisch politischer Rechte" handelt, hat das BVG nicht an der Aussage gehindert, es gebe das "Junktim zwischen der Eigenschaft als Deutscher und der Zugehörigkeit zum Staatsvolk als dem Inhaber der Staatsgewalt" (in: Bielefeld 1992, 124). Bielefeld spricht hier von "impliziter Definition des 'Deutschen' als einer ethnischen Gemeinsamkeit" und bewertet dies lediglich als Schwachstelle. Ein genauerer Blick zeigt hingegen, daß diese implizite Definition ein strukturelles Element der Verfassung bzw. des GG ausmacht, das in konstruierten Krisen und 'Gefahrensituationen' ('rassische Unterwanderung', 'Souveränitätsverlust') eine nachhaltige diskursive Wirkung in der politischen Praxis in Form von 'Massenmobilisierung' entfalten kann, wie bei der Unterschriftenaktion der CDU/CSU in diesem Frühjahr.

Im Staatsbürgerschaftsrecht ist historisch die Spannung zwischen einem vorstaatlichen souveränen Volkswillen, der sich bis Rousseau zurückverfolgen läßt, und dem 'souveränen Staat' als Herrschaftsmaschine, der notfalls mit Gewalt seine BürgerInnen zur Raison bringt, eingelagert. Dieses spannungsreiche Verhältnis eines 'natürlichen volonté generale', der Rousseausche Begriff für 'Gemeinwille' als "ideelles moralisches Wesen" (Neumann 1995, 19), und einem 'starken Staat' mit autoritär-repressiver 'Konfliktregulation' (Innere Sicherheit, Grenzschutz, organisierte Kriminalität) stellen auch in Zukunft die beiden Eckpfeiler staatlicher Souveränität dar, die den Staat in Zeiten von neoliberaler-ökonomischer Globalisierung und nationalstaatlicher Deregulierung unabdingbar machen.


Das souveräne Volk und seine Feinde (Schmitt)

Bezüglich der Konstruktion eines 'souveränen Volks' weist Behr auf den Doppelcharakter des Volksbegriffs hin: "Neben dem staatsbürgerlichen Volksbegriff existiert ein unpolitischer (...) ethnischer Volksbegriff" (Behr 1998, 39), aus dem sich qua Verfassung die Souveränität herleitet. Eine ähnliche Verschränkung von politisch-aufklärerischen Momenten mit Vorpolitisch-Mythischem findet sich im Begriff des Staatsvolks, der "religiös aufgeladen ist, soweit er als 'ursprüngliche Herrschermacht' (G. Jellinek) in der Tradition des Souveränitätbegriffs der deutschen Staatslehre verstanden wird. Denn 'ursprüngliche', d.h. nicht abgeleitete Macht gibt es in der Theologie als eine Eigenschaft Gottes" (Oyen, 1999), weshalb durchaus von einer Metaphysik des Deutschtums im religiösen Sinn, ähnlich wie bei der Begründung eines einheitlichen Volkswillens, gesprochen werden kann.

Es ist aus zwei Gründen sinnvoll, sich im aufgezeigten Kontext auf Carl Schmitt zu beziehen. Zum einen hat er einen normativen Begriff des Politischen geprägt, der das Verhältnis von 'Volk', Staat und Politik systematisch im oben genannten Sinn beschreibt wie auch die Beziehung eines 'souveränen Volks' zu den 'Fremden' bzw. zum 'Feind'. Zum anderen läßt sich die hinter der Aussage von Stoiber verborgene Logik mit Bezug auf Schmitts Konstruktion transparent machen, wenn man sich, um es mit dem Diskursanalytiker Michel Pecheux zu formulieren, das diskursiv Vorkonstruierte klar macht. So geht es um die Prämissen, das vorausgesetzte Wissen, die Art der Normalität und die "evidenten Referenzen", die in das Verständnis einer solchen Aussage eingehen. Der bekannte einleitende Satz in Schmitts Schrift "Der Begriff des Politischen" von 1932 lautet: "Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus" (1996, 20). Dem Politischen liegt nach Schmitt im Unterschied zum Moralischen, Ökonomischen usw. die Unterscheidung von "Freund und Feind" zugrunde, wobei der Feind "nur der öffentliche Feind" und nicht etwa der "Konkurrent oder Gegner im allgemeinen" ist. Es geht für Schmitt um den existentiellen Grundtatbestand der Fähigkeit eines "starken Volkes" zur "seinsmäßigen Negierung eines anderen Seins" (ebd., 26 ff), denn, wie er in einer Kritik am Parlamentarismus vermerkt, "die physische Tötung von anderen Menschen, die auf der Seite des Feindes stehen (...) hat keinen normativen, sondern nur einen existentiellen Sinn" (1957, 71). Zentral ist der Gedanke, daß Vernichtung bzw. "Ausscheidung" des Feindes im "Bewußtsein des 'Ernstfalles'" (ebd., 30) potentiell immer vollziehbar sein muß. Wer aber ist der Feind und wem gegenüber? Der Feind nach Schmitt ist der "existentiell Andere" (Staff 1981, 388), welcher sich der "Identität und der Homogenität des Volkes" und mithin dem "Willen des Volkes" (Schmitt, zit. nach Neumann 1995, 51) gegenübersieht. Schmitt spricht hinsichtlich der Demokratie von "substantieller Gleichheit" (ebd.). Der Demokratie in reiner Form liegt also ein völkischer Purismus zugrunde, der unter Hypostasierung des Volkswillens im entscheidenden Augenblick, etwa einer definierten Krise, die Bekämpfung des "Heterogenen" potentiell immer möglich macht: "Zur Demokratie gehört also notwendig erstens die Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen" (Schmitt 1957, 59). Das Extrem einer Krise ist z.B. der Ausnahmezustand, den Schmitt bekanntermaßen dazu verwendet, in seiner "Politischen Theologie" den Begriff der Souveränität zu definieren: "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet" (1985, 11). Die Macht der Definition und die Macht des politischen Handelns, die bei Foucault im Begriff der Praktik (diskursiv/nicht-diskursiv) enthalten sind, sind zwei Momente der souveränen Macht.

Bezogen auf Diskurse über SBS, Kultur, Sprache, Sitten usw. bedeutet dies, daß 'die Ausländer', 'die Fremden' im Nationalstaat von Seiten des 'souveränen Volkes' einer steten Markierung und Zuweisung der differenten Gegenposition ausgesetzt sind, die sich aufgrund des gleichen Codes in unzähligen Diskursen immer wiederholt: deutsch/nicht-deutsch (bzw. fremd, ausländisch usw.). Unterstellt man daher semantische Elemente wie homogen, identisch, souverän, Volkswille usw. als Kollektivattribute, so ist dadurch implizit schon eine potentielle politische Praxis der Neutralisierung, Aussonderung oder Vernichtung von Fremdheit und Heterogenität in dieser Konstruktion enthalten. Das Moment der impliziten Drohung spielt dabei eine wichtige Rolle. Im Zusammenhang mit den Thesen von Baumann wird darauf zurückzukommen sein.


Vom Recht auf Ausschluß des "permanenten Anderen" (Baumann)

Baumann formuliert in "Moderne und Ambivalenz" eine Theorie der Moderne und des modernen Staates, der ständig darauf bedacht ist, Ordnung herzustellen und Ambivalenz zu vernichten. Die neue Form der Macht, die sich mit dem modernen Wissen von Wissenschaft und Regierung/Staat entwickelte, war die "differenzierende Macht", die in allen denkbaren Bereichen "das Andere" hervorbrachte:

"Auf diese Weise ist die Abnormität das Andere der Norm, Abweichung das Andere der Gesetzestreue, Krankheit das Andere der Gesundheit, Barbarei das Andere der Zivilisation, das Tier das Andere des Menschen, die Frau das Andere des Mannes, der Fremde das Andere des Einheimischen, der Feind das Andere des Freundes, 'sie' das Andere von 'wir' (...)" (29).

Sicherlich gab es viele der Differenzsetzungen historisch auch vorher, aber sie gehörten zu einem anderen, zumeist mythisch-religiösen Universum, denn erst mit der Durchsetzung der Formen neuzeitlicher Wissenschaften systematisierte sich das Wissen in der Weise, daß es Grundlage für eine "Sozialtechnologie" war. Dergestalt wurde auch in Verknüpfung mit der Entwicklung eines frühen 'Sozialstaats' ein Wissen staatlicherseits verfügbar, das durch "Taxonomie, Klassifikation, Inventar, Katalog und Statistik" (ebd.) In-dividuen wie Gruppen gleichermaßen nach bestimmten Rastern erfassen und zuordnen, verschieben und verändern konnte. Aus diesem 'Geist der Rationalität' und der rationalen Regulierung entwickelte sich nicht nur ein neuer Typus von Macht, die Foucault "Normalisierungsmacht" nennt und die "normend, normierend, normalisierend" zugleich wirkt. Mit ihr entsteht auch eine neue Art "sozialer Utopie" – die einer leidensfreien, gesunden, reinen und makellosen Gesellschaft und eines Glaubens, "daß soziale Probleme endgültig gelöst werden konnten" (1994, 46). Wie ein gewaltiges diskursiv-instutionelles Netz spannte sich das neue Wissen um die 'Rasse' als Dispositiv im 19. Jahrhundert, das wesentlich aus den Humanwissenschaften erwuchs, über das nationalstaatlich organisierte Europa und transformierte die Vorstellungen vom Politisch-Sozialen nachhaltig ins Biologistische (s.u.). Baumann zitiert an dieser Stelle Peukert:

"Wir dürfen nicht vergessen, daß der faschistische Rassismus ein Modell für die Neuordnung der Gesellschaft, ihre innere Ausrichtung anbot. Er beruhte auf der rassistisch begründeten Aussonderung aller aus der Norm herausgefallenen Elemente, von aufsässigen Jugendlichen, von Arbeitsbummlern, Asozialen, von Prostituierten, von Homosexuellen, von beruflich erfolglosen und Leistungstüchtigen, von Behinderten."

In diesem Sinne führte der deutsche Faschismus "den utopischen Glauben an allumfassende 'wissenschaftliche' Endlösungen sozialer Probleme zum letzten logischen Extrem" (Peukert, in: Baumann 1996, 46). Diese alle sozialen Bereiche durchherrschende Logik der Normalisierung führt immer zu Abweichungen, die wiederum einem nun erweiterten "System von Normalisierungsgraden" (Foucault 1994, 237) unterworfen wird. Obwohl der Staat und mithin die Instanzen der Wissensproduktion, und dies stellt ein Grundparadox der Moderne dar, stets bestrebt waren, Homogenität und Eindeutigkeit herzustellen (und sei es, über das Strukturprinzip von Ein- und Ausschluß), wurden immer wieder erneut auch Heterogenität und Mehrdeutigkeit, Untentscheidbares und Ambivalenz hervorgebracht. Insofern ist der Moderne die Tendenz der Subversion ihrer eigener Prinzipien dadurch eingeschrieben, daß in ihrem Namen und Wissen 'Sicherheiten' hervorgebracht werden, die aus sich heraus permanent neue 'Unsicherheiten' produzieren. Gegen vertraute Antagonismen wie die von "Freund und Feind" verstoßen die ambivalenten 'Elemente' – "der Fremde" stellt eine solche Grundambivalenz dar, weswegen Baumann davon spricht, daß die Grundaufgabe des modernen Nationalstaats "das Problem der Fremden, nicht das der Feinde" (1992, 33) sei. Dies realisiert der Staat wesentlich durch den "kulturellen Ausschluß des Fremden, seiner Konstruktion als permanenter Anderer" (1996, 90), den er mit einer Art "semantischer Signifikanz" diskursiv markiert und immer wieder neu erzeugt. Seine Sichtbarkeit muß gewährleistet bleiben. Nur in Gestalt des "kulturellen Fremden" kann 'der Fremde' überhaupt bestimmt werden, wobei der Staat nicht nur Vertreibung und Vernichtung der Fremden im Auge hat. Baumann macht deutlich, daß der moderne Nationalstaat logisch nur aus der Vernichtung oder Einverleibung des Fremden zu verstehen ist – der "kulturelle Kreuzzug" gegen kulturelle Partikularität kleinerer vorstaatlicher Einheiten, machten ein "Projekt der Homogenität", d.h. ein explizites "Ordnungsprojekt" notwendig, dem wesentlich das "Assimilationsprojekt" entsprang. Die eingelagerten Widersprüche, wie Ungleichzeitigkeit der Entwicklung, Widerstandsformen usw. führten zu einem "Zustand der Ambivalenz" , in dem der Staat oft genug mit der Exklusion des Fremden reagierte. Baumann unterstreicht die Rolle des Nationalstaates als permanentem Identitätsproduzenten im Zuge der "Nationalisierung des Staates" und der "Etatisierung der Nation" (ebd.). Das Herstellen eindeutiger Identitäten, die innere und äußere Exklusion von Fremden durch Einsper-rung/Verwahrung und Vertreibung bis zur Vernichtung stellt ein markantes Merkmal des modernen Nationalstaats dar und, dies sei hier nochmals betont, wird es auch in neoliberalen Zeiten und in einer Phase staatlicher Deregulierung bleiben.

Die gegenwärtigen "Schandklassen" (Foucault 1994, 235) sind schon ausgemacht. Nicht nur die 'kulturfremden Türken' oder die 'Wirtschaftsasylanten', sondern auch die 'unpolitische und gewaltsame Jugend', die 'organisierte Kriminalität' usw. besitzen den symbolischen Status eines Gegensubjekts zur Position eines imaginären Eigenen – in Gestalt eines 'Deutschland', 'Standorts', 'Kulturnation', einer 'zivilisierten und produktiven Klasse', eines 'Wertebewußtseins' usw. Kollektive Identitäten haben, wie Benedict Anderson für die Nation gezeigt hat, immer einen imaginären Charakter und sind insofern notwendig vorgestellt, als die "Mitglieder selbst der kleinsten Nation die meisten anderen niemals kennen, ihnen begegnen oder auch nur von ihnen hören werden, aber im Kopf eines jeden die Vorstellung ihrer Gemeinschaft existiert" (1988, 15). Dieses notwendig und in bestimmten alltagspraktischen Formen immer wieder neu reproduzierte Imaginäre trifft auch auf alle sozial definierten 'Problemklassen' zu, weshalb die oben beschriebene Figur des Fremden nicht nur 'die Ausländer', sondern alle zu-Fremden-Gemachten einschließt.


Von der Notwendigkeit politischen Handelns angesichts der "biologischen Gefahr" (Foucault)

Hansen berichtet in "Die exekutierte Einheit", in welcher Weise nach der gescheiterten 48er Bewegung, dem Sieg Preußens und der Reaktion und dem "Exodus der Demokraten" sich politische Vorstellungen nach dem Vorbild des "biologistischen Paradigmas" (1991, 13) durchzusetzen begannen:

"Das biologistische Paradigma des 19. Jahrhunderts erlaubt die Erklärung allen unerwünschten Verhaltens aus der Abstammung: Es sind die falschen Eltern, die falschen Vorfahren, das falsche Blut, die zum falschen Verhalten führen. Asozialität, Kriminalität sind angeboren, kulturlose Slawen haben kulturlose Kinder, Juden haben eine zersetzende Intelligenz (...) Zigeuner sind arbeitsscheu und Gesindel..." (13f).

Foucault hat diesen Prozeß des Eindringens des "Biologischen ins Politische" als "Biopolitik" und die neue Art der Macht als "Biomacht" (1983, 170; 1992, 52) bezeichnet. Ein neues Wissen in der doppelten Form der Disziplinarmacht, welche auf die produktiven Kräfte des individuellen Körpers zielt und einer Regulierungsmacht, welche die Bevölkerung im Auge hat, d.h. deren spezifische Regulierung – Foucault nennt als Beispiele "Systeme der Krankenversicherung, der Alterssicherung, Hygieneregeln (...), Schulbesuch" (1992, 54). Entscheidend für den Zusammenhang von Staat, Volk, Nation und Rassismus ist nun, daß es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Renaissance des Phantasma des Blutes kommt, quasi als feudales Relikt des sogenannten "Allianzsystems" adeliger Familiengenealogien. Dieses wird dem herrschenden "Sexualitätsdispositiv" unterlegt, aufgrund dessen sich der "moderne, staatliche, biologisierende Rassismus" formiert und "eine ganze Politik der Bevölkerung, der Familie, der Ehe, der Erziehung, der gesellschaftlichen Hierarchisierung..." (ebd.) begründet.

Der biologische Rassismus bildet jedoch nur den Ausgangspunkt für ein Modell von Gesellschaft (a) als "binärer Konzeption", d.h. "zwei Gruppen, zwei Kategorien von Individuen" (1986, 12) und (b) damit verknüpft ist der "Diskurs des immerwährenden Krieges", d.h. der "Krieg als dauernde soziale Beziehung" (ebd.). Foucault verfolgt also den Rassediskurs, seine Implikation und diskursiven Anknüpfungspunkte im politisch-sozialen Bereich und macht dessen logisches Extrem deutlich. Das besteht darin, sowohl Leben und Sterben als auch die "Relation des Krieges" zu bestimmen, die heißt: "Wenn Du leben willst, dann muß der andere sterben" (1992, 56). Die Vorstellung von Rasse, Volk oder auch Nation als einer natürlich gesetzten und gedachten vorpolitischen homogenen Entität definiert demnach eine "biologische Beziehung" (ebd.) jenseits historischer geformter Sozialität.

Die logisch-semantische Struktur dieses Diskurses (Statik, Reinheit, Spaltung, Kampf, Hierarchie, Vernichtung usw.), die sich erst enthüllt, wenn man ihn quasi 'zuende' denkt, reartikuliert einen Großteil des Feldes des Politischen als Biologisch-Naturhaftes, indem er in Form von Metaphern, Metonymien und Symbolen in andere Diskurse eingespeist wird. Dadurch wird diese Logik immer wieder neu importiert: Das stete ins-Spiel-Bringen und z.T. gezielte lancieren eines 'deutschen Volks an sich' etwa bei der Unterschriftenkampagne der CDU/CSU, die Unzahl indirekter Andeutungen (Allusionen), welche auf die exklusive 'Souveränität der deutschen Nation' (in)-direkt und repetitiv anspielte ('Belastungsgrenze') und die in dem 'Recht auf Ausschluß' besteht, das sich von dem 'Recht auf Identität' wiederum herleitet. Die konnotativen Verdichtungen der mitgeschleppten Bedeutungen sind es, welche die Resonanzen erzeugen, die auf den diskursiven Verknüpfungen expliziter und impliziter Art beruhen und das semantische Netz, an einer Stelle einmal angestoßen, insgesamt zum Schwingen bringen. Die konkreten Formen der Aktualisierung des je historisch Möglichen zeigen sich, darauf weist Schmitt mit der Bemerkung hin, daß sich der Kern der Dinge im "Ernstfall" (Schmitt) enthüllt, gerade in Krisenzeiten in spezifischen Praxisformen. Insofern kann der Erfolg der Unterschriftenaktion als die performative Seite des Diskurses um die 'Souveränität der deutschen Nation' gewertet werden, bei der an einem bestimmten historischen Punkt das diskursiv Vorkonstruierte einer möglichen Praxis in Handlungsvollzüge der aktuellen politischen Praxis quasi umschlägt. In ihrem rassisch-völkisch und ethnischen Zuschnitt funktioniert dieser Diskurs noch, und die 'Gefahr' einer doppelten SBS ist vorerst gebannt. Die Mobilisierungsform "Unterschriftenaktion" mit der Diskursfigur "Volk/Volkswillen gegen Regierende/die-da-oben" gehört, wie u.a. Stuart Hall in einer Diskursanalyse des Thatcherismus gezeigt hat, zum Repertoire rechter Politikformen und stellt in keiner Weise eine Übernahme linker plebiszitärer Vorstellungen einer "Politik-auf-der Straße"-Form dar. Er spricht vom "Volk-gegen-Regierungs-Block", den die Neue Rechte konstruiert habe: "Sie hat einen alternativen Block konstruiert, der um die mächtigen Themen 'Antietatismus', 'Antikollektivismus' (...) 'gegen den Machtblock' organisiert ist" (1986, 91).

Andere Beispiele für entsprechende Aktualisierungsformen nationaler Identität sind der Diskurs um die Walser-Rede oder auch der Einsatz der Bundeswehr im Ausland – beides Diskurse, in denen explizit von "Normalisierung" (Identität/Souveränität) die Rede ist. Die Debatte um die (doppelte) Staatsbürgerschaft hat in keiner Weise die Problematik um Begriffe wie Volk oder nationale Identität aufgegriffen, auch nicht die sogenannten progressiven Positionen, sondern diese unthematisiert zur Voraussetzung der Debatte gemacht und auf diese Art zur Verfestigung des Diskurses ums 'Volk' als homogene vorpolitische Einheit beigetragen. Die entscheidende Frage lautet daher nicht: doppelte oder einfache Staatsbürgerschaft, sondern welche Art von Bürgerschaft für welchen Staat. Richard Herzinger hat treffend auf die Scheinfronten und heimlichen Verwandtschaften der SBS-Debatte aufmerksam gemacht, nämlich daß der gemeinsame Glaube an den "kulturellen Volksgeist Konservative und Multikulturalisten" (DIE ZEIT, 14.1.99) zusammenführt:

"(...) auch die Multikulturalisten messen kulturellen Verhaltensmustern eine primäre Bedeutung bei der Herausbildung staatsbürgerlicher Identität zu. Beide, Konservative und Multikulturalisten, erheben deshalb die pragmatische Frage der doppelten Staatsbürgerschaft in den Rang einer Grundwerteentscheidung. Nur mit dem Unterschied, daß erstere im Besitz zweier Pässe eine Quelle der Entfremdung durch Entwurzelung sehen, während letztere umgekehrt die Entwurzelung der Fremden befürchten, wenn sie durch die Abgabe ihres alten Passes von den Lebensadern ihres Kulturkreises abgeschnitten werden."

Im O-Ton bekennender Multikultis hört sich das so an:

"Gleichzeitig sollte man den Ausländern die Einbürgerung dadurch erleichtern, daß man diese nicht an die Aufgabe der vorherigen Staatsbürgerschaft bindet. Mit einem solchen Recht auf die doppelte Staatsbürgerschaft würde der deutsche Staat den Kulturkonflikt, in dem sich viele junge, hier geborene Ausländer unausweichlich befinden, nicht länger leugnen, sondern anerkennen." (Cohn-Bendit/Schmidt 1992, 338)

Dieser kulturelle Artenschutz derart symbolisch eingehegter 'Ausländer' (jeder in seinem Kulturkäfig) im "Menschenzoo" (Desmond Morris) Deutschland unter Wärterschaft des deutschen Staates stellt in der Multikultidebatte nichts Neues dar. Auf die Vorstellungen einer Multikulti-Gesellschaft reagierte beispielsweise Anfang der 80er Jahre die rassistische südafrikanische Presse hocherfreut:

"Die staatliche südafrikanische Presse faßte die Äußerungen der Kirchen [zur multikulturellen Gesellschaft, T.H.] als Bestätigung ihrer eigenen Politik auf und publizierte sie deshalb sehr ausführlich. Es wurde prognostiziert, daß nun auch bald in der Bundesrepublik Apartheidsstrukturen eingeführt würden." (Frank 1995, 25)

Die "taktische Polyvalenz" (Foucault) des Diskurses um nationale Identität kann letztlich nur vermieden werden, indem man ihn dekonstruiert. Die Kongruenz der Positionen zeigt die Nähe vermeintlich unterschiedlicher Perspektiven und den kulturalistischen Reformismus des multikulturellen Projekts, der letztlich die nationalstaatliche Oberhohheit über 'die Kulturen' im Sinn von Zuschreibungs- und Definitionsmacht aufrechterhält und differentialistisch moderni-siert. Mit Blick auf die SBS kann die Alternative nicht lauten: einfach oder doppelt national, sondern beispielsweise einen Begriff von "sozialer Staatsbürgerschaft" (Lockwood 1987, 31) jenseits nationaler Identitätszuschreibungen zu entwickeln, der politische und soziale Bürgerrechte miteinander verbindet.

Thomas Höhne


Literatur:
° Anderson, B. 1988: Die Erfindung der Nation. Ffm/N.Y.
° Baumann, Z. 1992: Moderne und Ambivalenz. In.: Bielefeld (Hg.), S. 23 – 50.
° ders. 1996: Moderne und Ambivalenz. Ffm.
° Behr, H. 1998: Zuwanderung im Nationalstaat. Opladen.
° Bielefeld, U. 1992: Das Konzept des Fremden und die Wirklichkeit des Imaginären. In: Ders. (Hg.): Das Eigene und das Fremde. S. 97 – 128.
° Cohn-Bendit, D./Schmid 1992: Heimat Babylon. Hamburg.
° Foucault, M. 1983: Der Wille zum Wissen. Ffm.
° ders. 1986: Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Berlin.
° ders. 1992: Leben machen und sterben lassen: Die Geburt des Rassismus. In: diskus, Nr. 1.
° ders. 1994: Überwachen und Strafen. Ffm.
° Frank, S. 1995: Staatsräson, Moral und Interesse. Freiburg.
° Hansen, G. 1991: Die exekutiere Einheit. Ffm/N.Y.
° Hall, Stuart 1986: Popular-demokratischer oder autoritärer Populismus, in: Helmut Dubil (Hg.): Populismus und Aufklärung, Frankfurt/M, 84 – 105
° Heckmann, F. 1992: Ethnos, Demos und Nation, oder: Woher stammt die Intoleranz des Nationalstaats gegenüber ethnischen Minderheiten. In: Bielefeld (Hg.), S. 51 – 78.
° Herzinger, R. 1999: Was heißt hier deutsch? In: DIE ZEIT, Nr. 3, 14/1/99.
° Lockwood, D. 1987: Schichtung in der Staatsbürgerschaft. In: Giesen, B./Haferkamp, H. (Hg.): Soziologie der sozialen Ungleichheit. Opladen, S. 31 – 49.
° Neumann, F. 1995: Demokratietheorien – Modelle zur Herrschaft des Volkes. In: Ders. (Hg.): Handbuch politische Theorien und Ideologien, Bd. 1. Opladen. S. 1 – 70.
° van Oyen, R.C. 1999: Was ist in der Demokratie ein Staatsvolk? In: FR 18.2.99.
° Pecheux, M. 1983: Über die Rolle des Gedächtnisses als interdiskursives Material. In: Geier, M./Woetzel, H. (Hg.): Das Subjekt des Diskurses. Berlin.
° Preuß, U.K. 1994: Revolution, Fortschritt und Verfassung. Ffm.
° Schmitt, C. 1957: Positionen und Begriffe. Weimar/Genf/Versailles.
° ders. 1985: Politische Theologie. Berlin.
° ders. 1991: Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus. Berlin.
° ders. 1996: Der Begriff des Politischen. Berlin.