diskus 2/00

Pech, wer eine »Heimat« hat
Die neue EU-Flüchtlingspolitik

»Migrationsdruck« auf die Festung Europa
Selten herrscht derart Einigkeit unter den Regierenden der EU Mitgliedsstaaten wie bei der Frage der Migrations- und Flüchtlingsbekämpfung. Denn mit der schrittweisen Durchsetzung eines »gemeinschaftlichen Raumes von Freiheit, Sicherheit und Recht« stellt sich zugleich die Frage, wem der Eintritt gewährt wird. Mit der segmentären Öffnung nach innen geht daher spätestens seit Mitte der 90er Jahre auch die Tendenz einer zunehmenden Abschottung der EU nach außen einher. Draußen bleibt, wer nicht per Abstammung dazu gehört. Die technologische Aufrüstung der Außengrenzen und eine zunehmend repressivere Ausländerpolitik als sichtbarer Ausdruck dieser Tendenz werden seitdem mit einem steigenden »Migrationsdruck« begründet. Angesichts der voranschreitenden Verelendung des Trikonts bei gleichzeitig anhaltendem Bevölkerungswachstum sehen europäische Migrationsstrategen einen Ansturm der Armen voraus. Das Bild, daß sie von der Welt außerhalb der europäischen Grenzen zeichnen, ist das von abgeschriebenen und übervölkerten Kontinenten, deren zahlenmäßige Überlegenheit die Metropolen Europas bedroht. In diesem Sinne ist Fluchtabwehr zu allererst die Bekämpfung der Armen. Sie zielt darauf ab, Flüchtlinge möglichst schon vor den europäischen Außengrenzen, spätestens in der subeuropäischen Peripherie auf- und festzuhalten und Fluchtwege zu verstopfen. Daß die »illegale Migration« nach Europa zu stoppen sei, ist derweil in allen politischen Fraktionen des Europarates Konsens.1

Bei diesem Bemühen macht die EU längst nicht mehr an ihren Außengrenzen halt, sondern bindet zunehmend auch Anrainerstaaten in die Fluchtabwehr ein, die einen schützenden Gürtel um Europa bilden sollen. So fand bereits im Juni 1998 auf Initiative der deutschen Bundesregierung eine »Sonderkonferenz zur illegalen Migration durch Südosteuropa« statt, die den durch den Kosovo-Krieg ausgelösten Fluchtbewegungen quasi präventiv vorauseilte. Auf der damaligen Konferenz in Budapest wurden »die Balkanstaaten auf Maßnahmen zur Zerschlagung der »türkisch-albanischen« Route verpflichtet, über die die »illegalen Bewegungen« (...) vordringen würden. Insgesamt 31 Staaten nahmen an dieser Konferenz teil, unter ihnen Albanien, Bosnien Herzegowina, Bulgarien, Kroatien, Tschechische Republik, Mazedonien, Griechenland, Ungarn, Italien, Polen, Slowakei, Slowenien und die Türkei.«2 Die Peripheriestaaten werden praktisch zur Übernahme des Konzeptes der demographischen Abriegelung des europäischen Raumes gezwungen, in-dem die Gewährung von Wirtschafts- und Entwicklungshilfe an die Aufnahme von Flüchtlingen oder die Durchsetzung fluchtverhindernder Maßnahmen geknüpft sind. Eine Folge ist, daß die Flucht nach Europa wesentlich schwieriger und vor allem auch gefährlicher geworden ist. Nicht selten endet der Fluchtweg tödlich oder in einem der Flüchtlingslager der osteuropäischen Peripherie.3

Den eigentlichen Schritt in die Offensive aber hat die Festung Europa mit der Umsetzung dessen unter-nommen, was einst als Kritik an der Flüchtlingsbekämpfung mit »Bekämpfung der Fluchtursachen« bezeichnet wurde. Mit präventiven Maßnahmen sollen Flüchtlingsbewegungen bereits dort, wo sie entstehen, verhindert und schon Geflohene in der Region gehalten werden. Dabei sollen humanitäre Sofortmaßnahmen, langfristige Entwicklungshilfe, diplomatischer Druck und zur Not die militärische Einrichtung von Schutzzonen als »Querschnittsaufgabe von Außen-, Wirtschafts-, Asyl- und vor allem Entwicklungspolitik«4 ineinander greifen und die repressive Fluchtabwehr ergänzen. Damit hat die europäische Flüchtlingspolitik ihr traditionelles innenpolitisches Terrain verlassen und ist zum festen Bestandteil, wenn nicht sogar Motor einer kohärenten europäischen Außenpolitik geworden.

Von der Innen- zur Außenpolitik - das Beispiel Deutschland
Über 40 Jahre oder genauer seit der Verabschiedung der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) wurde die Asylpolitik weitestgehend als ein nationales, innenpolitisches und rechtliches Problem gehandhabt. Dies resultiert nicht zuletzt aus dem von der GFK geregelten grundsätzlichen Verhältnis, in dem der Flüchtling dem Aufnahmestaat gegenüber tritt: Als individuelles Rechtssubjekt, dem Schutz garantiert werden muß, sofern er aus Furcht vor Verfolgung sein Heimatland verließ. Die Unterzeichnerstaaten der GFK sichern laut Vertrag allen Menschen, die den Status eines Flüchtlings besitzen, den Zugang zum allgemeinen Rechtssystem, zu Grundrechten und den Zugang zu staatlichen Hilfeleistungen, Bildung und medizinischer Versorgung zu. Innerhalb dieses Rahmens beschränkte sich die traditionelle Fluchtabwehr der einzelnen Staaten vorwiegend darauf, durch defensive, innenpolitische Maßnahmen und die Abriegelung der Außengrenzen die Zahl der (im Sinne der GFK) anerkannten Flüchtlinge zu senken.

Dieses Modell wurde erst grundsätzlich in Frage gestellt, als mit dem Ende des Blockkonfliktes auch die ideologische Bedeutung des »politischen Flüchtlings« abhanden kam. Vor allem in Deutschland war zu beobachten, wie in direktem Anschluß an die Auflösung der sozialistischen Systemalternative eine vollständige Umdefinition der Asylpolitik von statten ging. Gleichzeitig mit einer schon in den 80er Jahren beginnenden rapiden öffentlichen Entwertung des Begriffs Flüchtling zum »Scheinasylanten« und »Wirtschaftsflüchtling« wurden alle konventionellen Möglichkeiten ergriffen, die Zahl der Flüchtlinge zu senken.5 Eine ganze Serie von Gesetzesverschärfungen führte zu einer immer restriktiveren Anerkennungspraxis.6 Neben der Zunahme von Abschiebungen hat dies faktisch dazu geführt, daß nur ein Bruchteil der in Deutschland lebenden Flüchtlinge tatsächlich im vollen asylrechtlichen Sinne anerkannt sind, während beispielsweise Afghanen, irakische und türkische Kurden, Somalis und Menschen aus dem ehemaligen Jugo-slawien zumeist nur über einen wesentlich prekäreren Status verfügen, der ihnen vorübergehende Duldung oder einen begrenzten Aufenthalt aufgrund von Abschiebehindernissen gewährt. Andererseits wur-de das Lebensniveau der in Deutschland lebenden Flüchtlinge durch Kürzungen sozialer Leistungen und Zugangsbeschränkungen auf dem Arbeitsmarkt rapide gesenkt. Beides führte dazu, daß der gesamte Asylprozeß tendenziell von der Gerichtsbarkeit an die Ausländer- und Sozialverwaltung übertragen und strukturell entrechtlicht wurde, während der behördliche Kontrollapparat enorm anwuchs. Mit absinkendem Status nämlich liegen die Kompetenzen in der Flüchtlingspolitik immer stärker in den Händen der Exekutive, bis letztlich im schlimmsten Falle die Ausländerbehörde oder die zuständige Ausländerpolizei über einen weiteren Aufenthalt entscheiden. Dem entspricht auf der anderen Seite eine fast irrationale Überverwaltung von Flüchtlingen durch Meldeauflagen, Residenzpflicht, Sozial- und Ausländerämter.

Diese Möglichkeiten der Fluchtabwehr sind insofern konventionell, als sie den grundsätzlichen Rahmen nicht verlassen, innerhalb dessen Asylpolitik sich traditionell bewegt: Flüchtlinge werden dann zum Gegenstand politischer Regulation, wenn sie im Aufnahmeland erscheinen und als Rechtssubjekte gemäß der GFK Schutz einfordern. Flüchtlingspolitik bestand daher darin, ihnen nachzuweisen, daß sie diesen Rechtsanspruch nicht haben und zugleich durch innenpolitische Repressionen und Kontrollmaßnahmen das Aufnahmeland für Flüchtlinge möglichst unattraktiv zu machen. In Deutschland sind diese Möglichkeiten längst bis an den Rand des Machbaren ausgeschöpft worden. Auf der Suche nach effizienteren Wegen der Flüchtlingsbekämpfung scheint es naheliegend zu sein, daß sich die Fluchtabwehr spätestens seit Mitte der neunziger Jahre tendenziell nach außen orientierte. So machte sich während der Tagung der europäischen Staats- und Regierungschefs 1992 in Edinburgh vor allem die deutsche Regierung stark für das Prinzip der »Regionalisierung der Flüchtlingsaufnahme«, das besagt, daß Flüchtlinge vorrangig in den Ländern derjenigen Weltregion Aufnahme finden sollen, aus der sie stammen. So ist es nicht zuletzt dem Engagement Deutschlands zu verdanken, daß die Auslagerung der Maßnahmen und die Zusammenarbeit verschiedener politischer Ressorts unter den Maßgaben der Fluchtabwehr zu zentralen Elementen einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik wurden.

»Task Force Asylum / Migration« - Auslagerung und Entdemokratisierung
Praktisch zeitgleich mit der Einrichtung des KFOR Protektorates im Kosovo trat 1999 der Amsterdamer Vertrag in Kraft, der den Weg einer künftigen »gemeinsamen Linie« europäischer Asylpolitik weist. Schrittweise soll die Flüchtlingsbekämpfung der Einzelstaaten zusammengefaßt und zur vordringlichen europäischen Aufgabe werden. Aus bislang nicht bindenden Texten der EU wird in zentralen Bereichen der Asyl- und Migrationspolitik Gemeinschaftsrecht werden. Damit soll den nationalen Alleingängen einiger europäischer Mitgliedsstaaten, wie der lange Zeit relativ liberalen Aufnahmepolitik Italiens, vorgebeugt werden. Die gemeinsame Regulierung der Außengrenzen, wie sie der Schengener Vertrag vorsah, wird durch eine Konzentration politischer Entscheidungskompetenz in zentralen EU-Gremien ergänzt werden. Im Zentrum dieser Konzentrationsbemü-hungen steht ein als High Level Working Group on Asylum and Migration (HLWG) oder »task force asylum/migration« bezeichnetes Expertengremi-um, das dem Rat angehört und weitestgehend der Kontrolle durch das Europäische Parlament entbunden ist. Diese task force, die sich aus hochrangigen Beamten der Innen- und Außenministerien der Mitgliedsstaaten zusammensetzt, soll künftig alle asylpolitischen Planungen zentral und ressortübergreifend erarbeiten, die dann vom Rat beschlossen werden. Auf europäischer Ebene wird die Flüchtlingspolitik damit einerseits den Einspruchs- und Entscheidungskompetenzen der einzelnen Innenministerien, wie der Rechtsprechung der nationalen Gerichtsbarkeit tendenziell enthoben, andererseits gegenüber jeder effektiven parlamentarischen Kontrolle abgeschirmt (die dort erarbeiteten Konzepte werden wiederum in den Mitgliedsstaaten ohne Beteiligung nationaler parlamentarischer Gremien umgesetzt). So entsteht die Situation, daß Regierungen im Rat als Legislative Regelungen beschließen und diese national als Exekutive umsetzen. Diese organisatorische Verlagerung spiegelt die veränderte Ausrichtung der praktischen Flüchtlingspolitik wider. Asyl und Migration werden nicht mehr als rechtliche und innenpolitische Probleme gesehen, die entstehen, wenn Flüchtlinge in den Einzelstaaten auftauchen, sondern als steuerbare Größen innerhalb eines kompakten Systems europäischer Politik gegenüber dem nichteuropäischen Ausland. Während das auf Nationalstaaten zugeschnittene Konzept der GFK eine für das Individuum eingetretene Tatsache gegenüber Staaten regulieren wollte, nämlich jene, daß Menschen als Flüchtlinge in einem Staat Schutz und Rechtssicherheit suchen, dessen Staatsbürgerschaft sie nicht besitzen, orientiert sich die in der task force konzentrierte europäische Flüchtlingspolitik an der politischen Regulierung von kompakten Flucht-bewegungen. Flüchtlingspolitik orientiert sich nicht mehr an der Kontrolle und Verwaltung von einzelnen Rechtssubjekten, sondern an kompakten Flüchtlingsgruppen und ethnischen Abstammungsgemeinschaften, deren Schicksal zum Gegenstand politischer Planungen wird. In diesem Sinne avisiert der Amsterdamer Vertrag den »Übergang von ausschließlich rechtsstaatsorientierten zu auch politisch orientierten Schutzkonzepten«7, bzw. zur vor-übergehenden kontingentierten Aufnahme von Flüchtlingsgruppen aus Krisenregionen, die - wie im Falle der Kosovo-Albaner - keine gesicherten Aufenthaltsrechte besitzen. Damit versucht die EU, sich von der Bindung an den von der GFK vorgegebenen rechtsstaatlichen Rahmen in der Behandlung von Flüchtlingen zu lösen und Perspektiven für eine offensive politische Regulierung zu öffnen. »Letztendlich ist in einem künftigen umfassenden Rechtsakt auch die Frage zu klären, ob sich das in Europa in ganz anderen verwaltungsrechtlichen Zusammenhängen entwickelte Rechtsstaatskonzept und das Modell rechtsförmig durchsetzbarer subjektiver Rechte tatsächlich noch für den Flüchtlingsbereich als einziges Instrument eignet. An die Stelle von individuellen Bescheidverfahren könnte ein ausgeweitetes Kontingentaufnahmeverfahren treten, das sich im übrigen auch noch relativ leicht mit neu zu entwickelnden Lastenteilungsmechanismen kombinieren ließe.«8

Diese Neudefinition des Flüchtlings ist möglich geworden durch die von der deutschen Regierung vorangetriebene »Regionalisierung der Flüchtlingsaufnahme« und der Wiederentdeckung des »Rechts auf Heimat«. Beide fügen sich perfekt ein in die aggressive außenpolitische und militärische Rolle, die die EU seit dem Wegfall des Blockkonfliktes anstrebt.

Heimatrecht und Flüchtlingsschutz
Seit langem schon hat sich die Vorstellung durchgesetzt, daß eine effektive Fluchtabwehr nicht erst an den Außengrenzen der EU, sondern bereits im Vorfeld, am besten gleich dort, wo Flüchtlinge entstehen, einzusetzen habe. Diese »Regionalisierung«, die oft als Politik im Sinne der Flüchtlinge dargestellt wird, funktioniert als Zusammenspiel von Repression und Hilfe. Mittels humanitärer Nothilfe und entwicklungspolitischen Projekten soll die Lebenssituation der Menschen in den typischen Herkunftsländern so weit verbessert werden, daß sich das immer größer werdende Risiko einer Flucht nicht mehr lohnt. Gleichzeitig werden die benachbarten Länder in die Fluchtabwehr einbezogen. Gegenüber kurdischen Flüchtlingen aus dem Irak beispielsweise übernimmt seit längerem schon die Türkei diese Rolle. Ausgerüstet mit Grenzsicherungsanlagen, die ein Hermeskredit der Bundesregierung bescherte, und mit regelmäßigen Razzien in den Elendsquartieren der westtürkischen Großstädte sollen Flüchtlinge aufgespürt und in den Nordirak zurückgeschoben werden.9 Dieses Konzept der Regionalisierung fußt zentral auf dem »Recht auf Heimat« (»right to remain«), das Mitte der 90er Jahre erstmals in die Satzung des UNHCR aufgenommen wurde und besagt, daß Menschen ein Anrecht darauf besitzen, in ihrer angestammten »Heimat« leben zu dürfen. Damit fand auf UN Ebene jene paradigmatische Umdefinition des Flüchtlings statt, die sich in der Fluchtabwehr der EU heute praktisch äußert. Bis dahin nämlich war das Flüchtlingsrecht, wie es in der GFK festgeschrieben ist, insofern universal, als es Menschen unabhängig von Aufenthaltsort oder Herkunft Rechte verlieh: Wer »zuhause« nicht bleiben kann oder will, dem werden Zuflucht und Rechte an anderen Orten garantiert. Das Recht auf Heimat nun bindet den Flüchtling an seinen Herkunfts-ort zurück. Die da-rin zum Ausdruck gebrachte Vorstellung, Menschen wurzelten in ei-nem Territorium und könnten daher nicht einfach weggehen, wenn es ihnen dort nicht gefällt, ist zu einem Argumentationsmuster der gesamten europäischen Außenpolitik geworden. Ziel der flüchtlingspolitischen Maßnahmen ist es folgerichtig nicht, Menschen Schutz zu gewähren, sondern ihnen zur Rückkehr in ihre Heimat zu verhelfen. Die veränderte Terminologie, die den Flüchtling durch den »Vertriebenen« ersetzt hat, weist den Weg: Das Recht auf Heimat geht in der Praxis einher mit der ethnischen Inrechtsetzung von »Volksgruppen«, die ein »angestammtes« Territorium beanspruchen. Auf diesem Prinzip fußen die humanitären Interventionen und Einrichtungen ethnischer »Schutzzonen« und Enklaven im kurdischen Nordirak, Ruanda, Bosnien oder dem Kosovo. So war es durchaus nicht nur Propaganda, wenn Bundesverteidigungsminister Rudolph Scharping und seine europäischen Kollegen davon sprachen, die Rückkehr der Kosovo-Albaner in ihre »Heimat« zu betreiben. Alleine die Weigerung sie auch nur wenige Kilometer von der Grenze zum Kosovo Schutz suchen zu lassen, geschweige denn ihnen Asyl in Europa anzubieten, zeigt, wie ernst es ihnen damit war.

Auf der technischen Ebene ist die Fluchtabwehr damit praktisch von der Außenpolitik der europäischen Staaten nicht mehr zu trennen. Man könnte zugespitzt formulieren, daß der Unterschied darin besteht, daß traditionelle Flüchtlingspolitik sich darum bemüht hat Verfolgerstaaten möglichst schön zu ma-len, um die Anerkennungsquote zu senken, während die neue Flüchtlingspolitik aktiv daran geht, die Verfolgerstaaten selbst entsprechend umzugestalten. Entsprechend anders sehen auch die Akteure aus: Erstmals 1991 bei der Einrichtung eines »safe haven« im kurdischen Nordirak und erneut im Kosovo wurden die Maßnahmen der Fluchtabwehr gemeinschaftlich von den Außenministerien, dem Militär und humanitären Organisationen erfüllt. An der Grenze zu Albanien ha-ben die Soldaten der Bundeswehr nicht nur Zelte für Flüchtlinge aufgebaut, sie haben auch dafür gesorgt, daß ein massenhafter Ausbruch unterbleibt. Fast gewöhnt hat man sich derweil an die enge Kooperation zwischen Militär und Hilfsorganisationen, ohne die keine der genannten Enklaven aufrecht zu erhalten ist und die während des Kosovo-Krieges bisweilen bizarre Blüten trieb, wie beispielsweise Rupert Neudecks10 Aufruf an die NATO, einen »humanitären Korridor« freizubomben.

Geändert hat sich folglich auch die Situation der Flüchtlinge, wie jener Kosovo-Albaner in den Camps bei Kukes, die nicht einmal mehr dem traditionellen Grundsatz zufolge, daß Flüchtlinge möglichst fern vom Kampfgebiet untergebracht werden müssen, sicher sein konnten vor den Rekrutierungen durch Kampfverbände; oder die paar Tausend, die in einem Akt politischer Gnade vorübergehend Duldung erhielten und von Kirchengemeinden mit Decken und gebrauchten Gartenmöbeln versorgt wurden, aber keinerlei dauerhaftes Aufenthaltsrecht besaßen.

Krieg für Flüchtlinge?
Was sich von Außen betrachtet als konsistentes Konzept zur Fluchtabwehr darstellt, ist - wie die Erfahrungen mit der Umsetzung »heimatnaher« Flüchtlingsbekämpfung zeigen - alles andere als ein funktionsfähiges und dauerhaft aufrecht zu erhaltendes Programm. Keine der heimatnahen Schutzzonen ist wirtschaftlich oder politisch überlebensfähig. Die lokalen Verwaltungen der substaatliche Entitäten besitzen keinerlei Souveränitätsrechte und leiden zudem unter den vielfältigen Problemen, die es bereitet, die militärischen oder paramilitärischen Verbände jener Organisationen und Parteien, die zuvor illegal in der Region tätig waren, in ein ziviles Leben zu überführen. Die für Flüchtlinge eingerichteten Schutzzonen sind, wie Bill Frelick, Senior Analyst des US-Council for Refugees 1998 ernüchtert feststellte, heute die »wohl gefährlichsten Orte der Welt«.

Nicht nur der faktische Mißerfolg der Projekte stellt die in sich geschlossene Logik eines kohärenten Programms der Fluchtabwehr als Leitmotiv europäischer Außenpolitik in Frage. Denn ohne Zweifel wurde der NATO-Krieg im Kosovo nicht alleine der Flüchtlinge wegen geführt. Die Konzepte der Fluchtabwehr passen sich vielmehr perfekt in eine ethnisierte Außenpolitik ein, die am Rande Europas beständig Nationalisierungsprozesse lostritt. Dabei funktionieren Flüchtlingscamps wie jene in Mazedonien wie eine Art »nation generating communities«. Die schwierige Aufgabe über eine Abstammungsgemeinschaft Gemeinsamkeit unter Leuten zu erzeugen, die aufgrund sozialer Klasse, Bildung oder regionaler Herkunft mehr trennt, als sie eint, wird den nationalistischen Bewegungen in den Flüchtlingscamps praktisch abgenommen. Zurückgeworfen auf die nackte Existenz, abhängig von den Hilfsgüterverteilungen der UN und zugleich ohne eine reelle Chance, ihr Glück an einem anderen Ort der Welt zu suchen, verblieb den Flüchtlingen als letzte Perspektive tatsächlich nur die Rückkehr in ihre »Heimat«, die sie mangels Alternative auch erkämpfen würden.11 Der damit losgetretene Nationalisierungsprozeß, der eine ethnische Abstammungsgemeinschaft als Einheit von »Volk«, Geschichte, Kultur und Territorium im Gegensatz zu anderen definiert, zieht ganz folgerichtig jene »ethnischen« Auseinandersetzungen nach sich, die man heute im KFOR-Protektorat beobachten kann. Als Zuschreibung von Außen pflanzt sich dieser Prozeß über die Grenzen der Region fort. Im Sinne einer »ethnischen« Hilfsaktion sollen nicht nur jene paar Tausend als Kontingent aufgenommenen, sondern prospektive alle geschätzt rund 180 000 Kosovo-Albaner in ihre Heimat »zurückgeführt« werden. Die ethnisierende Rückbindung von Menschen an ihre Herkunftsländer ist somit zu einem realen Alptraum für alle geworden, die das Pech haben, eine »Heimat« zu besitzen. So funktioniert die Fluchtabwehr zur Abschottung der Festung Europa nicht nur als Kampf gegen die Armen, sondern zugleich als Motor des »europäischen Integrationsprozesses« nach innen. Dort formiert sich eine Art Abschottungsgemeinschaft, die sich über den Ausschluß all jener konstituiert, die aufgrund ihrer Abstammung nicht dabei sein sollen.

Tommy Ufer


Anmerkungen:
< 1 > Die Argumentationsstrukturen freilich unterscheiden sich eklatant. Während einerseits aufgrund skandalisierender Bevölkerungsstatistiken klare Bedrohungsszenarien den »Schutz« Europas vor den »Flüchtlingsströmen« nahe legen, argumentiert die Sozialistische Fraktion im Europaparlament, daß die schutzbedürftigen Flüchtlinge von den Migranten aus wirtschaftlichen Gründen zu trennen seien. Der darin enthaltene Rassismus, der sich mehr schlecht als recht hinter der vermeintlichen Sorge um die politisch Verfolgten verbirgt, zeigt sich beispielsweise aktuell in der Debatte, die durch die Entdeckung von 59 toten Flüchtlingen in England hervorgerufen wurde. Der Fund führte nicht zu einer Debatte über die Abschottungsmaßnahmen, sondern zu einem Frontalangriff der Labour Party auf die Genfer Flüchtlingskonvention. Während des EU-Rats-Gipfels von Tampere noch mußte Haider herhalten, um das Votum der Soz. Fraktionen für eine restriktivere Migrationspolitik zu legitimieren: »In these times of Haider and other demagogues it is probably a wise policy to underline that we demand respect for the asylum-seeker but that the asylum seeker must also respect our laws. But our laws need to be constantly reviewed and revised when necessary, no legislator, no politician, not even a bleeding heart can foresee the nightmare that is forced migration and exile.« Pierre Schori, Vice-President for Foreign and Security Policy of the Socialist Group in the European Parliament, auf dem EU Tampere Summit Parallel Meeting 1999, zit. nach »The ECRE Tampere Dossier«, Brüssel, Juni 2000, S. 36.
< 2 > Helmut Dietrich: Europäische Flüchtlingspolitik und der NATO-Krieg, in: Widerspruch - Beiträge zur sozialistischen Politik, 19. Jg./
Heft 37 - Juli 1999.
< 3 > Hierbei kommt es oft zu Kettenabschiebungen der Flüchtlinge von einem Land zum nächsten. Endstation ist für die Flüchtlinge mitunter Weißrussland oder Russland, wo sie als Illegale auf eine erneute Chance warten.
< 4 > Martin Schieffer: Die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedsstaaten in den Bereichen Asyl und Einwanderung, Baden-Baden 1998, S. 32.
< 5 > Die weitgehende Abschaffung des grundgesetzlich garantierten Asyls war sicherlich nur der spektakulärste und öffentlich meist beachtete Schritt in diese Richtung. Dem folgten in schneller Reihenfolge Verschärfungen im Asyl- und Ausländerrecht, ein neues Asylverfahrensrecht und die Novelle des Asylbewerberleistungsgesetzes.
< 6 > Den Kern dieser Maßnahmen bildete die definitorische Trennung von Flucht aufgrund politischer Verfolgung und wirtschaftlich bedingter Migration. Ein heuristisches Unterfangen angesichts der strukturellen Verwobenheit wirtschaftlicher Ausbeutung und politischer Unterdrückungsverhältnisse. Diese Trennung in »Asyl« und »Migration« allerdings ist in der GFK schon angelegt, die eine »begründete Furcht vor Verfolgung« voraussetzt.
< 7 > Vertragstext
< 8 > Manfred Matzka: Zur Notwendigkeit einer europäischen Einwanderungspolitik, Vortragsmanuskript, Trier, 18. Februar 1999. Matzka arbeitet für das österreichische Innenministerium und gilt als einer der maßgeblichen Vorreiter bei der Planung einer gemeinsamen europäischen Fluchtabwehr.
< 9 > Im Nordirak selbst herrscht ein Nothilferegime, daß mit den Geldern der UN und der Europäischen Geberorganisation ECHO notdürftig am Leben gehalten wird.
< 10 > von der Hilfsorganisation Cap Anamur
< 11 > Ein Phänomen, das in den palästinensischen Flüchtlingslagern seit Jahrzehnten zu beobachten ist. Die meisten arabischen Staaten haben sich konsequent geweigert, die palästinensischen Flüchtlinge zu integrieren, um den territorialen Anspruch auf Israel aufrechtzuerhalten.