diskus 2/00

editorial

Seit vor ein paar Wochen 58 chinesische Flüchtlinge bei dem Versuch, in Großbritannien einzureisen, in einem Container erstickten, kann man fast jeden Tag neue Schauergeschichten über skrupellose Fluchthelfer und die geldgierige Schleusermafia lesen. Daß denjenigen, die aus welchen Gründen auch immer, nach Europa einreisen wollen, ob der verschärften Einreisebestimmungen oft keine andere Wahl bleibt, wird dabei gerne verschwiegen. Vor allem die dafür verantwortlichen Politiker prangern gerne die »verbrecherische Brutalität der Schleuserbanden« (Schily in BZ, 26. 6. 00) an, leugnen aber jeden Zusammenhang mit den hiesigen Asylregelungen.

Noch vor zehn Jahren waren Fluchthelfer Helden, die von Medien und Politik bejubelt wurden. Allerdings waren das Leute, deren Verdienst darin bestand, nicht nur Menschen bei der Flucht, sondern auch bundesrepublikanischen Politikern bei der Gei-ßelung eines »verbrecherischen Regimes im Osten« zu helfen. Dies und die geringe Zahl der Flüchtlinge aus den Staaten des Warschauer Pakts führte zu einer beispiellos hohen Anerkennungsquote, die kein anderes Herkunftsland jemals erreichte, egal welche politischen Verhältnisse dort herrschten. Der Imagewandel des Fluchthelferberufs - und auch die Veränderun-gen der Techniken zur Fluchthilfe - hängen so mit einem Wandel der europäischen Flüchtlingspolitik nach 1989 zusammen. Die beabsichtigte Kontingentierung von Flüchtlingen ermöglicht dann nicht nur deren leichtere Abschiebung, sondern soll vor allem »das Problem« gleich vor Ort lösen. Das »Recht auf Heimat« ersetzt das Recht auf Asyl und legitimiert zugleich die militärische und politische Intervention in Krisengebiete wie dem Kosovo. Projekte zur Verbesserung der Lebensbedingungen in »unterentwickelten« Ländern, die einst im Kontext der Diskussionen um eine gerechte Weltwirtschaftordnung standen, dienen hier als Abstandhalter für potentielle Flüchtlinge auf internationalem Niveau. (vgl. Pech, wer eine »Heimat« hat, S. 4)

Verfolgt man die aktuelle Debatte um Einwanderung im Anschluß an die Greencard, geht es offenbar nicht darum, jede Form der Einwanderung abzuwenden. Vielmehr herrscht Unzufriedenheit mit den bestehenden Selektionsmechanismen, denn die Asylregelungen führten, so heißt es, zu einer Einwanderung, die nicht den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands nützt. In der großen Koalition der neuen Einwanderungsfreunde gibt es dennoch Differenzen, darüber nämlich, wie rigide die Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen zu regeln seien. Während die Schrödersche Greencard IT-SpezialistInnen 5 Jahre Aufenthalt garantiert, wollen die Innenminister Beckstein und Bouffier mit ihrer Bluecard die Aufenthaltsdauer unmittelbar ans Arbeitsverhältnis koppeln: Wer seinen Job verliert, kann abgeschoben werden.

Die Mobilität der Arbeitskraft ist seit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise für die Unternehmen ein Problem. Schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Regelungen zur Begrenzung der Vertrags- und Bewegungsfreiheit der Arbeiter erlassen - es ging um die grundsätzliche Verfügbarhaltung der Bevölkerung als Arbeitskraft. Diese territoriale Regulierung der Arbeitskraft verändert sich historisch, liegt aber der kapitalistischen Ordnung stets zugrunde, vor allen Dingen in Gestalt der Nationalstaaten. Mobilität des Kapitals und begrenzte Mobilität der Menschen gehören zusammen. Könnte jeder Mensch dort hinziehen, wo er wollte, könnten der global strukturierten Fragmentierung und Hierarchisierung der Arbeitskraft sowie den darauf basierenden Kapitalstrategien etwas entgegengesetzt werden.

Vor diesem Hintergrund ist es vielleicht vielversprechender, sich in der Debatte um Einwanderung nicht auf den humanistischen Konsens einzulassen und um die Definition von anerkannten Fluchtursachen, Fluchtwegen und -ländern zu streiten, sondern eher von einem Recht auf Mobilität auszugehen. Anstatt von MigrantInnen als Opfern zu sprechen - und damit die offizielle Unterscheidung zwischen nützlichen Arbeitskäften und Verfolgten zu verfestigen - könnte so eine »ökonomische« Debatte um Einwanderung geführt werden, mit der man auch die arbeitsmarktprotektionistische Haltung der Gewerkschaften unterlaufen kann. Dies impliziert zugleich die Notwendigkeit neue, nationalstaatsunabhängige Formen sozialer Sicherung zu erfinden.

Freilich ist die Forderung nach der Abschaffung von Grenzen (und der damit verbundenen höchstwahrscheinlichen Abschaffung des Staates) zur Zeit so en vogue wie Stone-Washed Jeans mit weißen Applikationsstreifen. Politik ist natürlich trotzdem möglich. Anti-Image-Kampagnen wie diejenige gegen die Lufthansa und deren Abschiebungsdienstleistung entsprechen eher den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen. Kämpfe gegen Unternehmen, die einen nicht unwesentlichen Teil ihrer Arbeit über das Internet abwickeln, können auch ohne die klassische Massenmobilisierung erfolgreich geführt werden. (vgl. Der Kranich ..., S. 9; Hauptversammlung ..., S. 12) In der anstehenden Debatte um ein Einwanderungsgesetz kann wohl z. Z. nicht mehr erreicht werden, als dessen selektive Momente abzuschwächen - was durchaus ein Erfolg wäre.

Redaktion diskus