Anhaltspunkte für eine andere Politik

Anmerkungen zum Text »Diffuse Netze« von Colectivo Situaciones



Vor knapp zehn Jahren, die Sowjetunion hatte soeben abgewirtschaftet, der Kapitalismus trat seinen scheinbar letzten Siegeszug an, mit anderen Worten, niemand mochte mehr so recht an Rebellion, Revolution und Sozialismus glauben, geschah ein kleines Wunder. Aus der in Europa bis dato unbekannten Provinz Chiapas in Mexiko kam die Meldung, dass pünktlich zur Einführung des Freihandelsabkommens zwischen Mexiko, Kanada und den USA die zapatistische Rebellenorganisation EZLN die Provinzhauptstadt besetzt hatte. In ihrer ersten »Erklärung aus dem Lakandonischen Urwald« standen die Worte »Ya Basta! Heute sagen wir, es reicht.«

Dass die Zapatisten damals den ehemaligen Gouverneur von Chiapas festnahmen, ihm einen Prozess machten und ihn dann wieder laufen ließen, »verurteilt, bis zum letzten Tage die Qual und die Schande zu erleben, von denen Vergebung und Nachsicht erhalten zu haben, die er so lange gedemütigt, entführt und ausgeplündert, beraubt und ermordet hat« erschien zunächst als ein sympathischer PR-Gag. In Deutschland dachte man vielleicht an die Schokoküsse, die ein Kommando der Bewegung 2. Juni einst bei einem Banküberfall an die verängstigen Kunden verteilt hatte.

Nach und nach jedoch stellte sich Verwirrung ein über die Politik der Zapatisten, die nicht aufhörten zu erklären, dass sie »nicht die Macht ergreifen« wollten. Als Subcommandante Marcos, der inoffizielle Sprecher der Bewegung, einige Jahre später bei einer der größten Demonstrationen in Mexiko-Stadt weder dazu aufrief, den nahe liegenden Präsidentenpalast zu stürmen, noch ein Regierungsprogramm verkündete, zog er den Unmut vieler Linker – von Lateinamerika bis Europa – auf sich. Wie konnte man sich nur diese Gelegenheit durch die Lappen gehen lassen?! Für die traditionelle Linke galt und gilt Politik, die nicht zumindest in letzter oder negativer Instanz auf die Ergreifung der Staatsmacht hinausläuft, als unpolitisch.

Die Skepsis, die dem Zapatismus überall in Lateinamerika und Europa aus dem Umfeld der globalisierungskritischen Bewegung entgegengebracht wird, spielt zusammen mit diesem mangelnden Vorstellungsvermögen und verdichtet sich in spezifischen Verschwörungsphantasien. Die Muster der Verkennung und die Strategien der Vereindeutigung ähneln sich auf frappante Weise. Was der EZLN in Mexiko widerfuhr, wiederholt sich nun, seit dem »Aufstand« vom Dezember 2001, in Argentinien.

Als die Revolte vom 19. und 20. Dezember 2001 sich partout nicht zentral organisieren lassen wollte und sich auch nicht auf den Plan und die Strategie einer »radikalen kleinen Minderheit«, einer Partei gar, zurückführen ließ, machte das die althergebrachten politischen Akteure schier verrückt. »Wer steckt hinter alledem? Wer führte die Massen an?« Diese Fragen repräsentieren, so schreibt das Colectivo Situaciones, vor allem eine konspirationsgläubige Sicht auf die Welt, in der stets »geheime Mächte« hinter dem Leben stecken. Man könnte dem hinzufügen, ihm korreliert der zutiefst reaktionäre Wunsch, dass nichts jemals sich ändern möge und nichts wahrhaft Neues sich ereigne in der Welt. Dem entspricht, wenn anlässlich des 11. September die Verschwörungstheorien wie Pilze aus dem Boden schießen, geht es doch vor allem darum, nach dem als brachial erlebten Einschnitt die alte Ordnung mit den alten Subjektivitäten zumindest ideologisch wieder herzustellen – eine Ordnung, in der die Staaten, ihre Geheimdienste oder andere dunkle Mächte die alles beherrschenden Akteure sind.

Gerade um die Destitution dieser Mächte, die vorgeben souverän zu sein, geht es aber in den neuen sozialen Kämpfen, und zwar um ihre Absetzung nicht allein in der Praxis, sondern auch in der Theorie. Der König, der der Staat ist, mag zwar ab und an enthauptet worden sein, blieb aber stets der König.

Der »Aufstand ohne Subjekt«, der Ende 2001 ganz Argentinien erschüttert hat, griff nicht die Staatsmacht an, um sie anschließend zu ergreifen, sondern er »vereitelte« den Ausnahmezustand, mit dem der Staat seine Souveränität demonstrieren zu können glaubte. Die Polizei bewachte den Regierungspalast, an dessen Macht nur noch sie allein glaubte. Die Massen versammelten sich nicht, um einer bestimmten besseren Zukunft (Sozialismus) wegen, sondern sie bezog ihren Sinn aus der Gegenwart. Und was sich in dieser Gegenwart abspielte, war eine Wiederentdeckung der Kräfte von unten, ein Akt der Selbstbestätigung.

Bei der militanten Untersuchung, die Colectivo Situaciones unternehmen, geht es darum, die »Gesamtheit sicherer Wahrheiten über die Politik aufzugeben, um sich in unbekannte Dimensionen der Zeit und des Raums zu begeben, die durch die Tage des 19. und 20. Dezember geöffnet worden sind« (C. S., 34). Das Colectivo ist eine Gruppe Intellektueller, die sich als Teil der Bewegung verstehen. In dem Text »Diffuse Netze« versuchen sie, sich diesen neuen Formen und Praktiken des Politischen, das sich in den Protesten manifestiert, theoretisch zu nähern. Leider haben die Herausgeber des Buches für die deutsche Fassung eine Reihe theoretischer Bezüge aus dem argentinischen Original nicht übernommen. Gerade das aber, was Ulrich Brand in seinem Vorwort zum Buch mit »poststrukturalistisch inspirierter radikaler Subjektkritik« labelt und was in seinen Augen »eher irritiert, als dass es zu weiter gehenden Einsichten beitragen würde« (C. S., 16) erscheint uns umgekehrt das Spannende und Innovative am Ansatz des Colectivo.

Die Emphase gegenüber den Massen oder der Multitude, die den Herausgeber skeptisch dünkt, und der er die vermeintlich vernachlässigte »Strukturebene« als Anstandsdame zur Seite stellen will, mag romantisch erscheinen, aber man kann die Sache auch anders sehen. Mit dem gewohnten ideologiekritischen Rüstzeug gewappnet lassen sich die Kämpfe des 19. und 20. Dezember ganz wie gehabt als den Angriff auf den Staat der Bourgeoisie verstehen, dessen Scheitern auf den mangelnden Durchsetzungswillen der Massen (die natürlich nur in ihrer überwältigenden Mehrheit zutiefst reformistisch sind) zurückzuführen ist: sei’s, daß ihnen das nötige revolutionäre Bewußtsein, sei’s die Führung fehlte. Gehen wir einen Augenblick davon aus, dass diese Weltsicht, so selbstverständlich sie auch scheinen mag, nichts weiter ist als selbst ein performativer Akt, eine bestimmte Weise, Dinge, Menschen, Verhältnisse miteinander zu verknüpfen – wenn auch eine besonders machtvolle. Das C. S. unternimmt den Versuch, dieses Politik-Dispositiv von verschiedenen Seiten her aufzubrechen. Die Schwierigkeiten beginnen schon, einen Namen und Begriffe für das zu finden, was man »Politik machen« nennen könnte und das doch diametral quer liegt zum herrschenden Politikmodus. Das C. S. entwickelt sein Verständnis anhand von Begriffen wie »Repräsentation«, das »Politische« und die »Politik«. Wenn Politik machen heißt, sich zu den Dingen und den Menschen ins Verhältnis zu setzen bzw. dieses Verhältnis als einen eigenständigen Gegenstand neu zu konstruieren, dann ist das Denken des Politischen tatsächlich zentral.

Ist man schon souverän, wenn man »Politik macht«, oder will man es werden? Kann man sich dem Staat entziehen, indem man einfach den Institutionen fernbleibt? Indem man keine positiven Vorschläge bringt, sich für den Staat keinen Kopf macht, nur Kritik übt? Heißt Politik machen immer auch, Staat zu machen? In Abwandlung eines alten Kalenderspruchs, den mindestens die Hälfte der grünen Bundestagsabgeordneten wieder erkennen dürfte, könnte man sagen, dass der Staat ein Papiertiger ist, aber dass er zugleich auch ein leibhaftiger Tiger ist, mit wirklichen Zähnen. Der Staat sei also weder zu über- noch unterschätzen. Nicht zu überschätzen, weil der Staat zwar das materielle Zentrum der politischen Macht ist, aber es eine »Illusion der Politik« ist, wenn sich Staat bzw. staatliche Politik als autonome Tendenz darstellt, wenn sie so tut, als sei sie die erste Bewegerin. Der Staat ist vielleicht der Ort »passiver Revolutionen«, nie aber Ursprung von Veränderungen. Man könnte mit Poulantzas sagen, dass die Kämpfe immer über den Staat hinausgehen, ihn überfluten. Darauf weisen C. S. hin, wenn sie etwa anhand der Frauenbewegung zeigen, dass die Kämpfe in den Staat eingehen können, dies aber nicht müssen, um staatliche Effekte zu hervorzubringen. Der Staat ist immer Reaktion.

Aber der Staat ist auch nicht zu unterschätzen, darf nicht einfach links liegen gelassen oder ignoriert werden. Den Staat zu unterschätzen kann heißen, in expliziten Netzen zu denken und zu handeln und sich dabei nur außerhalb des Staates zu wähnen. Explizite Netze beschränken sich mitnichten nur auf Staat, Partei oder Organisation! Das explizite Netz steht für einen etatistischen Politikmodus, der sogar ausdrücklich anti-etatistisch und basisbewegt auftreten kann. Dämonisierung und Vergötterung des Staates verhalten sich spiegelbildlich zueinander und daher ist es kein Wunder, wenn das eine aus dem anderen hervorzugehen vermag, meist gar beides in einem auftritt. Die Erlösung etwa in einer Art »Kommunismus des Unmittelbaren« zu suchen, so Poulantzas am Schluss seiner Staatstheorie (Poulantzas, 283), führe nur vermeintlich zur Abschaffung des Staates, sondern vielmehr »unvermeidlich zum statistischen Despotismus oder einer Diktatur der Experten«, mithin zum Stalinismus. Denn sobald man die Elemente der Selbstverwaltung oder der Bewegung zentralisiert, etabliert sich eine zweite, eine Gegen-Macht, bereit, die Staatsgeschäfte zu übernehmen.

Entscheidend ist offensichtlich etwas anderes, nämlich, wie man politisch wird. Will man Situationen zurechtschneiden, kommunizierbar und eindeutig machen oder nicht? Will man die Welt in expliziten Netzen denken oder vielmehr in diffusen? Der Begriff der diffusen Netze macht deutlich, dass die unterschiedlichen konkreten Lebensbedingungen in einem emanzipatorischen Projekt berücksichtigt werden müssen. Gesellschaftlicher Konsens, der ja nur auf einer universellen Ebene erreicht werden kann, hat sich an den Lebensbedingungen zu orientieren, muss also konkreter Universalismus sein. Dies kann nur durch eine Politik der diffusen Netze erreicht werden, womit eine Sichtweise umschrieben wird, die Situationen zum Ausgangspunkt macht – Begegnungen oder Verbindungen münden nicht automatisch in einem neuen globalen, möglichst homogenen Raum. Für einen solchen stehen die expliziten Netze. Sie fassen Situationen als Knotenpunkte eines Netzes, dem ein »virtueller Raum der Kommunikation zwischen homogenisierten Erfahrungen auf der Basis gemeinsamer Eigenschaften« (C. S., 189) zugrunde liegt.

Die expliziten Netze sind immer Ausschnitte aus dem globalen Netz, unter dem das C. S. so etwas wie den globalen Kapitalismus oder auch Weltmarkt versteht, der für eine Strategie der Zerstreuung steht. Zwar erlauben nur die diffusen Netze das Denken der Multitude, aber es geht auch nicht um die Abschaffung der expliziten. Ihnen kommt es eher auf eine andere, neuartige Kombination beider an, in denen die expliziten Netze die diffusen nicht länger dominieren. Doch diese neue Kombination erfordert eine qualitative Veränderung der expliziten Netze, denn die bisherigen Formen solcher Netze sind zu solch einer Kombination nicht in der Lage. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind die diffusen Netze daher nichts weiter als Anhaltspunkte für eine andere Politik, ein anderes Leben.

no spoon

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Gelesen:

Colectivo Situaciones (2003): Krise und Widerstand in Argentinien. Assoziation A. Berlin

Nicos Poulantzas (2002): Staatstheorie. VSA. Hamburg