»Die Blinden von
Globalisierung und die Türkei
Die
Anzeichen und Gerüchte darüber, dass der von den USA und den Verbündeten
begonnene »Kreuzzug« nicht auf Afghanistan begrenzt bleibt und deshalb an
Umfang und Gewalt zunehmen wird, vermehren sich von Tag zu Tag. Wie es
aussieht, werden der Türkei im Rahmen dieses »Feldzuges« wichtige »Aufgaben«
zufallen. Ankara befindet sich zur Zeit nicht in einer reinen Warteposition. Im
Gegenteil, es ist bereit zum Einsatz. In der Geschichte gibt es dafür
zahlreiche Beispiele.
Was
erwartet man von der Türkei »im Kampf gegen den Terror«? Es gibt Anzeichen,
dass in der derzeit vorherrschenden türkischen Politik darüber nachgedacht
wird, den Amerikanern mehr zur Verfügung zu stellen, als das auf dem türkischen
Terri-
torium
vorhandene logistische Potenzial. Folgendes erweckt Aufmerksamkeit: An den
Luft- und Bodenangriffen gegen Afghanistan waren türkische Einheiten nicht
beteiligt. Während anfangs die anderen Verbündeten wie beispielsweise
Deutschland wegen der Entsendung von Kampfeinheiten miteinander wetteiferten,
entschied sich die Türkei, lediglich 90 ausgewählte Soldaten zur Ausbildung von
Einheiten der »Nordallianz« zu schicken. Dieses widerspricht auf den ersten
Blick der von der Türkei verfolgten Politik der aktiven Rolle im Zusammenhang
mit dem Eingreifen des Westens in den angrenzenden Krisengebieten, wie z. B.
ihre Beteiligung an den Operationen der »Friedensstreitkräfte« auf dem Balkan.
Nachdem sich jedoch die Einzelheiten der »Aufgabe Afghanistan« herausstellen,
die man der Türkei für die Zeit nach dem Talibanregime zugesprochen hat, ist
festzustellen, dass es hier keinen Widerspruch gibt. Nach der »Befreiung«
Afghanistans sollen die Friedens-truppen aus Einheiten eines oder mehrerer mus-
limischer
Staaten bestehen, um auf diese Weise
Deutungen
vorzubeugen, es handele sich bei der
Anwesenheit
ausländischen Militärs um eine »Okku-
pation«.
Einer dieser Staaten wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Türkei sein. Vor
allem sind die engen Beziehungen und die modernistischen An-näherungen von
Amanullah Han in den 30er Jahren unter der afghanischen Regierung zur Zeit des
Kemalismus unvergessen. Man kann behaupten, dass Washingtons Druck die
Herstellung dieser geschichtlichen Parallelen verhindert. Ein weiteres Land,
das »Friedensstreitkräfte« nach Afghanistan entsendet könnte möglicherweise
Jordanien sein.
Tatsächlich
könnte es dem militärischen Eingriff, der darauf abzielt, eine der
Kriegsparteien an die Macht zu bringen, die Afghanistan seit Jahrzehnten in ein
Blutbad verwandelten, gelingen, eine »vorübergehende Stabilität« herzustellen.
Dennoch bestätigt die jüngste Vergangenheit Afghanistans die pessimistische Meinung,
dass eine solche Stabilität nach einiger Zeit zu einem noch tiefgreifenderen
Bürgerkrieg ausartet. Denn einer sowohl muslimischen als auch türkischen
»Friedensstreitmacht«, die in einem sich erneut zuspitzenden Bürgerkrieg in
Afghanistan mit der Herstellung der Ordnung beauftragt ist, bliebe nichts
anderes übrig als die Drecksarbeit für den Westen zu übernehmen. Das ist die
Aufgabe, die der Türkei im Zusammenhang mit dem großen Feldzug in Afghanistan
zugeteilt wird. Des weiteren stellt sich heraus, dass Washington bezüglich
dieses Feldzuges noch andere Pläne schmiedet und hierbei der Türkei bestimmte
Aufgaben zufallen werden. Während auf der einen Seite Afghanistan bombardiert
wird, propagiert man andererseits vehement den Kampf weiterzuführen, um »den
Terror auszurotten« um sich ohne größeren Zeitverlust Irak und Somalia zuwenden
zu können. Es gibt Hinweise, dass die USA, die bei früheren Eingriffen gegen
diese Länder die »Türkeikarte« ins Spiel brachten, diesmal mit detaillierterer
Planung vorgehen. Nach Vorschlägen des früheren FBI-Direktors James Woolsey und
des Eigentümers der Wirtschaftszeitschrift Forbes, Steven Forbes, wird sich die
USA diesmal ziemlich großzügig verhalten. Mit einer militärischen Intervention
unter direkter Beteiligung der Türkei möchte man der Herrschaft Saddam Husseins
ein Ende setzen. Für die Zeit danach wird über eine Abtretung des sich im
Nordirak befindenden erdölreichen Gebietes Mosul als »Belohnung« für das
türkische Entgegenkommen spekuliert.
Dieses
Muster wiederholt sich in letzter Zeit oft. Der Vorschlag, der manchen
»Abenteurerkreisen« in der Türkei den Appetit vergrößert hat, kam zum gleichen
Zeitpunkt wie die Erklärung, man könne von dieser Politik abweichen. Denn
hochrangige türkische Politiker, an der Spitze der Ministerpräsident, hatten
sich gegen einen militärischen Eingriff gegen den Irak ausgesprochen. Letzte
Pressemeldungen betonen ebenfalls eine Kehrtwendung: »Wenn es Hinweise gibt,
dass der Irak den Terror unterstützt, wird die Türkei dem Eingriff nicht widersprechen,
sondern sich sogar beteiligen.« Dabei wird die türkische Öffentlichkeit, die
absolut gegen einen Krieg mit dem Irak ist, mit einer neuen Frage konfrontiert:
Die USA werden in jedem Fall im Irak eingreifen und Saddam stürzen. Wenn die
Türkei dieses Vorgehen von Anfang an unterstützt, kann sie nach dem Ende der
Ära Saddam belohnt werden. Also, warum nicht? Es sind nicht wenige, die die
türkische Öffentlichkeit auf dieses Klima vorbereiten.
Ähnliche
Vorschläge standen auch während des »Irak-Feldzuges« unter Bush I auf der
Tagesordnung. Während überwiegend US-amerikanische Streitkräfte im Norden die
Befreiungsoperation für Kuwait durchführten, wurde ein Angriff der Türkei von
Norden her und die Besetzung Nordiraks vom damaligen Ministerpräsidenten Turgut
Özal mit den Worten »ich setze eins und nehme drei« offen angesprochen. Da
allerdings die türkische Armee gerade zu dieser Zeit mit dem »Kurdenproblem« in
großen Kalamitäten war und keine Lust auf neue Abenteuer im »Morast des
mittleren Ostens« hatte, wurde Özal gebremst. Zuletzt kritisierte der Chef des
Generalstabs diese Pläne und trat zurück. Damit musste Özal sein Vorhaben
aufgeben. In dem Maße, in dem das »Kurdenproblem« langsam von der türkischen
Tagesordnung verschwindet, werden Widersprüche gegen solche Pläne immer
seltener geäußert. Schließlich ist die in Aussicht gestellte Belohnung, nämlich
Mosul, ein »türkisches« Gebiet. Bis in jüngere Zeit bestanden die Einwohner
mehrheitlich aus Türken und Kurden. Aufgrund der »protürkischen« Einstellung der
dortigen Türken und der Türkeiphobie des Iraks wurde Mosul stets als ein
Problem betrachtet. Nicht zuletzt aus diesem Grunde war die Bevölkerung dieser
Region das letzte halbe Jahrhundert dem besonderen Druck des irakischen Regimes
ausgesetzt. Für manche gehört Mosul eben geschichtlich und juristisch zur
Türkei. Dieses Gebiet befand sich innerhalb der Grenzen des von den
kemalistischen Revolutionären nach der Niederlage des 1. Weltkrieges
proklamierten neuen Staates. Aufgrund der intensiven Intrigen des englischen
Imperialismus blieb Mosul außerhalb der türkischen Grenzen. Diejenigen, die den
11. September und den Afghanis-tankrieg als eine Gelegenheit zur Wiedervorlage
einer historischen Rechnung betrachten, stützen sich auf diese Gründe.
Diese
Szenarien werden von Befürchtungen begleitet, dass ein oder mehrere kurdische
Staaten – die sich im Nordirak zunehmend proamerikanisch entwickeln – durch
einen solchen Angriff »offiziellen« Charakter gewinnen könnten. Bekanntermaßen
würde die Türkei kaum akzeptieren, Nachbar eines oder mehrerer kurdischer
Staaten zu sein und in einem solchen Fall vermutlich auch eine
Auseinandersetzung mit ihrem wichtigsten Verbündeten, den USA, in Kauf nehmen.
Vor einiger Zeit tauchte der Vorsitzender der in der Türkei legalen kurdischen
Partei HADEP, Murat Bozlak, mit einem interessanten Vorschlag auf: Er sprach
sich gegen ein Eingreifen gegen den Irak aus und erklärte, dass man über eine
Vereinigung nachdenken könne, wenn die Bevölkerung im Nordirak dieses wünsche.
Wie
man es auch betrachtet, Tatsache ist, dass seit dem 11. September in der Türkei
weitgehend eine »klammheimliche Freude« über den Anschlag auf das World Trade
Center herrscht. Selbst die Regierenden brachten dies, wenn auch nur indirekt,
zum Ausdruck: Nach ihrer Meinung wurde die Türkei in ihrem Kampf gegen den
(kurdischen) Terror vom Westen bisher eher behindert als unterstützt.
Diejenigen, die die Türkei »spalten« wollten, hätten von westlichen Verbündeten
Unterstützung und Verständnis erhalten und seien schließlich sogar als Partner
akzeptiert worden. Dass die Türkei im Kampf mit dem Terror sich nicht mit der
Polizei begnügte und das Militär einsetzte, sei vom Westen oft kritisiert
worden. Der 11. September bewirke demgegenüber, dass die westlichen Verbündeten
nun endlich verstünden, was die Türkei schon seit langem durchzumachen hatte.
Die Maßnahmen zur Erhöhung der inneren und äußeren Sicherheit, die für den
»zivilisierten und demokratischen Westen« im Kampf gegen den Terrorismus nun
auf die Tagesordnung kommen, führten die Ungerechtigkeit der Kritik gegenüber
der Türkei aller Welt jetzt vor Augen. Was im Westen passiert, bewerteten die
Regierenden in der Türkei in diesem Sinne als »Selbstkritik« des Westens
bezüglich seiner Türkeipolitik.
Gleichzeitig
erlebt die Türkei momentan die größte Finanzkrise ihrer Geschichte. Sie weiß
aber, dass in der veränderten weltpolitischen Situation nach den Anschlägen in
New York auch die Chance liegt, von IWF, Weltbank und den westlichen
Verbündeten neue finanzielle Unterstützung verlangen zu können. Dass sie in der
»Anti-Terror-Allianz« eines der aktivsten Mitglieder ist, dürfte auch hierin
einen Grund haben.
Nach
dem Attentat vom 11. September forderte ein eifriger Zuständiger bei einem
Fußballspiel in Istanbul mehr als 40 000 Zuschauer zu einer Gedenkminute für
die Opfer von New York und Washington auf. Die Reaktion der Masse war ein
weiterer Ausdruck der »klammheimlichen Freude«. Viele interpretierten diese
Aufforderung anders als gemeint und tobten sich im Stadion mit dem Ausruf »zum
Teufel mit Amerika« aus.
Als
die Möglichkeit der Entsendung türkischer Soldaten nach Afghanistan auf die
Tagesordnung kam, ergaben Umfragen, dass die Mehrheit der Bevölkerung dagegen
ist. So sagte etwa eine alte Frau gegenüber einem Fernsehsender: »Ich würde
nicht mal meinen Hund hinschicken. Amerikaner sind sich zu gut dafür. Unsere
Kinder sollten nicht für deren Ziele sterben.« Und damit sprach sie wohl für
die Mehrheit der Bevölkerung. Die von einer Gruppe von Wissenschaftlern der Ege
Universität in Izmir gestartete Umfrage, darüber, worin die Rolle der Türkei in
Afghanistan oder bei möglichen militärischen Aktionen gegen andere Länder
bestehen solle, ergab, dass sich 38 % entschieden gegen eine Beteiligung der
Türkei aussprachen. Für die Entsendung türkischer Soldaten votierten nur 1 %.
Insgesamt sprachen sich fast 90 % der Bevölkerung gegen ein militärisches
Engagement der Türkei an der Seite der USA aus.
Nun,
was bedeutet das alles?
Erstens:
Der Widerstand der Bevölkerung gegen den Krieg resultiert nicht nur aus der
Stärke des politischen Islam. Die islamische Bewegung hat in letzter Zeit
innere Spaltungen durchlebt und wurde durch Interventionen des türkischen
Militärs entscheidend geschwächt. Diese Interventionen werden von einigen
Kreisen auch als »postmodern« bezeichnet. Der politische Islam hat auch
ideologisch seinen alten Einflussbereich weitgehend verloren.
Zweitens:
Der Widerstand der Bevölkerung gegen den Krieg hat seinen Grund auch nicht in
der Haltung der türkischen Linken. Die türkische Linke hat zwar, ohne zu
zögern, offen abgelehnt, »eine Wahl zwischen den Armeen eines Kreuzzuges und
des Djihads zu treffen« und ihr »Nein« zum Krieg ausgesprochen. Trotzdem hat
sie, wie auch andere Linke in der Welt, Schwierigkeiten, aus dem Kessel der
Einflusslosigkeit herauszukommen und sich als eine unabhängige politische Kraft
zu formieren. Nicht zuletzt die Spaltungen der Linken in der letzten Zeit sind
ein Grund für ihre Wirkungslosigkeit in der Öffentlichkeit. Deshalb kann von
einer »Führerschaft« der Linken im Widerstand der Bevölkerung gegen den Krieg
kaum gesprochen werden. Hinzu kommt, dass die kurdische Bewegung, die früher
mit den türkischen Linken kooperierte, sich von ihnen weitgehend abgesetzt hat.
Die eigentlichen Protagonisten der von den türkischen Linken in den letzten 40
Jahren auf die Tagesordnung gebrachten »kurdischen Leiden« sind auf der Suche
nach anderen Wegen: Die neue Generation kurdischer Politiker sucht die Lösungen
nicht mehr in linker Politik und in einer unab-
hängigen
gemeinsamen Aktion, sondern in den vom Westen hervorgebrachten Szenarien und
kann mittlerweile sogar mit dessen »Wohlwollen« rechnen.
Drittens:
Die Ablehnung des Krieges ist auch als Produkt des sozial-psychologischen
Zustandes der türkischen Bevölkerung zu sehen. Die Tatsache, dass der Angriff
der militärisch mächtigsten Armeen der Welt einem militärisch schwachen Ziel
gilt, oder anders ausgedrückt, sich die Reichsten der Welt auf eines der
ärmsten Länder stürzen, steht im Widerspruch zum gesellschaftlichen
Gerechtigkeitsgefühl in der Türkei.
Aber es macht keiner Politik,
Im
politischen Vakuum nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus auf dem Balkan,
im Kaukasus, im Mittleren Osten und Mittleren Asien hat sich die Türkei als
»Rammbock« des Westens
in
hegemoniale Auseinandersetzungen begeben. Die die türkische Politik
dominierende Rechte bewertet die Situation als neue Gelegenheit. Eine Türkei
aber, die wirtschaftlich eine große und anhaltende Katastrophe durchlebt, kann
eine türkische Hegemonie, die sie in der Geschichte einmal hatte, in diesen
Gebieten nicht wieder erringen. In diesem Zusammenhang haben die Träumer in
allen vier Gebieten nacheinander Enttäuschungen hinnehmen müssen. Die letzte
Enttäuschung war, dass die Afghanistan Konferenz nicht in Ankara, sondern in
Bonn stattfindet.
Die
Regierenden der Türkei, die türkische Rechte, versuchen, durch die Anbiederung
an den Imperialismus bei der neuen Aufteilung der Welt ihren Teil zu erhalten.
Sie versuchen es trotz des inneren Widerstandes der Bevölkerung. Sie denken, in
einer Zeit, in der linke Freiheitspolitiken immer mehr in Vergessenheit
geraten, die Bevölkerung sofort alles vergesse und zum Unterstützer selbst der
reaktionärsten Politik werde. Die reaktionären Kräfte der Türkei glauben, mit
der Erbschaft des Osmanischen Reiches im Hintergrund auf der politischen Bühne
einen überaus weiten Bewegungsraum zu besitzen.
Dafür
gibt es viele Beispiele: Die Bevölkerung stellte sich auch gegen den
Koreakrieg. Die USA und Südkorea erhielten für ihren Krieg gegen China und
Nordkorea eine durchaus großzügige militärische Unterstützung seitens der
Türkei. Eine große Zahl junger türkischer Soldaten starb in einem Tausende von
Kilometern entfernten Krieg, der keinen direkten Bezug zur Türkei hatte. Aber
mit Hilfe der Medien änderte sich das Klima in der Bevölkerung sehr rasch. Die
türkischen Soldaten gingen nach Korea, um die »Freie Welt« vor dem Kommunismus
zu schützen. Sie kämpften heldenhaft und starben. Und das Wichtigste, sie
kämpften besser als die Anderen. Das türkische Volk ist, wie man weiß, ein Volk
von Kriegern. Diese Legende war so mächtig, dass noch heute, ein halbes
Jahrhundert später, die Rolle der Türkei im Koreakrieg nicht ernsthaft
kritisiert wird. Der einzige Einspruch kam vom »Verein für Frieden«, der von
einer Hand voll Sozialisten Anfang der 50er Jahre gegründet wurde. Für ihren
Einspruch haben diese Menschen einen sehr hohen Preis gezahlt. Ihre Aktivitäten
jedoch blieben ohne Einfluss.
Dasselbe
hat sich während des Unabhängigkeitskampfes in Algerien wiederholt. Die
algerischen Revolutionäre, die den türkischen Befreiungskampf zum Vorbild
hatten, wurden von der türkischen Bevölkerung »innerlich« unterstützt, doch war
die Türkei eines der Länder, die zusammen mit Frankreich in der
UN-Vollversammlung bei der Abstimmung über die Unabhängigkeit Algeriens mit
»Nein« stimmten. Und auch das wurde für die türkische Bevölkerung nicht zu
einem Problem.
Zusammenfassend
kann gesagt werden: Es ist richtig, dass die Bevölkerung gegen Kriegsabenteuer
ist. Doch es ist nicht davon auszugehen, dass der Widerstand nennenswerte
Auswirkungen haben wird.
Doch
das Problem
Das
Problem ist vielmehr folgendes: Die Türkei hat bisher in ihrer Geschichte noch
keine derartige gesellschaftliche Verarmung und keinen
vergleichbaren
Rückschritt erleben müssen wie heute. Mit konventionellen politischen Maßnahmen
ist für dieses Leid keine Lösung zu finden. Die Bevölkerung befindet sich auch
in
diesem
Jahr angesichts der Wucht eines erwarteten wirtschaftlichen Abschwungs von neun
Prozent in einem Zustand der Ohnmacht. Angesichts dieser Ohnmacht, ist es
entmutigend, dass die türkische Linke, obwohl sie über eine nicht zu
vernachlässigende intellektuelle Basis verfügt, nicht im Stande ist, gemeinsam
ein alternatives Programm zu entwickeln. Es gibt zwar einzelne Intellektuelle,
die darüber nachdenken. Aber sie bleiben ohne Einfluss. Obwohl sich alle, außer
den »Blinden von Ankara« darüber einig sind, dass die Türkei und ihre Nachbarn einer ungewissen,
finsteren Zukunft zusteuern. Keiner sieht das Ende des Tunnels.
Demgegenüber
hält die Vorliebe der westlichen Welt an, alle Probleme auf dem Rücken der
Entwicklungsländer auszutragen. Welche Konsequenzen könnte diese Haltung haben?
Gegen die Kriegspolitik von Schröder und Fischer war in Deutschland oder in
Europa kein großer gesellschaftlicher Widerstand zu beobachten. Es sind auch
keine Zeichen vorhanden, die darauf hinweisen, dass kurzfristig solch ein
Widerstand entstehen könnte. Die »Blinden von Ankara« unterscheiden sich
insofern nicht von den Blinden von Berlin, Paris, Rom und Washington.
Zum
Schluss noch dieses: Colin Powell und die Bush-Administration, die Herren des
»modernen Römischen Imperiums«, steuern auf ein Zeitalter der militärischen
Ökonomie zu. Sie suchen neue Feinde und sie machen diese Feinde unter denen
aus, die sich gegen ihre Politik stellen. Bisher verhalten sie sich Ankara
gegenüber »gutmütig«, weil Ankara alles mit »Ja« beantwortet. Aber was
passiert, wenn die klassische kemalistische Politik, nach dem Motto »Frieden im
eigenen Land, Frieden auf der Welt«, wieder auf die politische Tagesordnung
kommt? Wird dann die Türkei in Reihe mit Taliban, Saddam und Gaddafi genannt
werden?
Der
für die Erweiterung der EU zuständige Kommissar Günter Verheugen hatte, als es
noch Bomben auf Jugoslawien regnete, in einem Interview, das wir für die
Zeitung »Cumhuriyet« führten, die Frage: »Heute der Balkan und morgen, wegen
ähnlicher ethnischer, menschenrechtlicher usw. Motive die Türkei?« mit harschen
Worten zurückgewiesen und behauptet, es gebe da »keine Zusammenhänge«.
Zwei
Jahre später ist festzustellen, dass sich in der neuen Weltunordnung alle
Steine verschoben haben. Auf wessen Köpfe werden – für die Neuordnung der Welt
– die Steine seitens der hegemonialen Kräfte geworfen werden? Wir erleben ein
»neues Mittelalter«. Aus dieser Finsternis können wir nur mit neuen
Intellektuellen herausfinden. Dabei sieht es leider nicht so aus, dass die
westliche Welt eine »Vorreiterrolle« spielen wird.
Gürsel
Köksal, Osman Çutsay