»Die Blinden von Ankara«

 

Globalisierung und die Türkei nach dem 11. September

 

 

Die Anzeichen und Gerüchte darüber, dass der von den USA und den Verbündeten begonnene »Kreuzzug« nicht auf Afghanistan begrenzt bleibt und deshalb an Umfang und Gewalt zunehmen wird, vermehren sich von Tag zu Tag. Wie es aussieht, werden der Türkei im Rahmen dieses »Feldzuges« wichtige »Aufgaben« zufallen. Ankara befindet sich zur Zeit nicht in einer reinen Warteposition. Im Gegenteil, es ist bereit zum Einsatz. In der Geschichte gibt es dafür zahlreiche Beispiele.

Was erwartet man von der Türkei »im Kampf gegen den Terror«? Es gibt Anzeichen, dass in der derzeit vorherrschenden türkischen Politik darüber nachgedacht wird, den Amerikanern mehr zur Verfügung zu stellen, als das auf dem türkischen Terri-

torium vorhandene logistische Potenzial. Folgendes erweckt Aufmerksamkeit: An den Luft- und Bodenangriffen gegen Afghanistan waren türkische Einheiten nicht beteiligt. Während anfangs die anderen Verbündeten wie beispielsweise Deutschland wegen der Entsendung von Kampfeinheiten miteinander wetteiferten, entschied sich die Türkei, lediglich 90 ausgewählte Soldaten zur Ausbildung von Einheiten der »Nordallianz« zu schicken. Dieses widerspricht auf den ersten Blick der von der Türkei verfolgten Politik der aktiven Rolle im Zusammenhang mit dem Eingreifen des Westens in den angrenzenden Krisengebieten, wie z. B. ihre Beteiligung an den Operationen der »Friedensstreitkräfte« auf dem Balkan. Nachdem sich jedoch die Einzelheiten der »Aufgabe Afghanistan« herausstellen, die man der Türkei für die Zeit nach dem Talibanregime zugesprochen hat, ist festzustellen, dass es hier keinen Widerspruch gibt. Nach der »Befreiung« Afghanistans sollen die Friedens-truppen aus Einheiten eines oder mehrerer mus-

limischer Staaten bestehen, um auf diese Weise

Deutungen vorzubeugen, es handele sich bei der

Anwesenheit ausländischen Militärs um eine »Okku-

pation«. Einer dieser Staaten wird mit hoher Wahrscheinlichkeit die Türkei sein. Vor allem sind die engen Beziehungen und die modernistischen An-näherungen von Amanullah Han in den 30er Jahren unter der afghanischen Regierung zur Zeit des Kemalismus unvergessen. Man kann behaupten, dass Washingtons Druck die Herstellung dieser geschichtlichen Parallelen verhindert. Ein weiteres Land, das »Friedensstreitkräfte« nach Afghanistan entsendet könnte möglicherweise Jordanien sein.

Tatsächlich könnte es dem militärischen Eingriff, der darauf abzielt, eine der Kriegsparteien an die Macht zu bringen, die Afghanistan seit Jahrzehnten in ein Blutbad verwandelten, gelingen, eine »vorübergehende Stabilität« herzustellen. Dennoch bestätigt die jüngste Vergangenheit Afghanistans die pessimistische Meinung, dass eine solche Stabilität nach einiger Zeit zu einem noch tiefgreifenderen Bürgerkrieg ausartet. Denn einer sowohl muslimischen als auch türkischen »Friedensstreitmacht«, die in einem sich erneut zuspitzenden Bürgerkrieg in Afghanistan mit der Herstellung der Ordnung beauftragt ist, bliebe nichts anderes übrig als die Drecksarbeit für den Westen zu übernehmen. Das ist die Aufgabe, die der Türkei im Zusammenhang mit dem großen Feldzug in Afghanistan zugeteilt wird. Des weiteren stellt sich heraus, dass Washington bezüglich dieses Feldzuges noch andere Pläne schmiedet und hierbei der Türkei bestimmte Aufgaben zufallen werden. Während auf der einen Seite Afghanistan bombardiert wird, propagiert man andererseits vehement den Kampf weiterzuführen, um »den Terror auszurotten« um sich ohne größeren Zeitverlust Irak und Somalia zuwenden zu können. Es gibt Hinweise, dass die USA, die bei früheren Eingriffen gegen diese Länder die »Türkeikarte« ins Spiel brachten, diesmal mit detaillierterer Planung vorgehen. Nach Vorschlägen des früheren FBI-Direktors James Woolsey und des Eigentümers der Wirtschaftszeitschrift Forbes, Steven Forbes, wird sich die USA diesmal ziemlich großzügig verhalten. Mit einer militärischen Intervention unter direkter Beteiligung der Türkei möchte man der Herrschaft Saddam Husseins ein Ende setzen. Für die Zeit danach wird über eine Abtretung des sich im Nordirak befindenden erdölreichen Gebietes Mosul als »Belohnung« für das türkische Entgegenkommen spekuliert.

Dieses Muster wiederholt sich in letzter Zeit oft. Der Vorschlag, der manchen »Abenteurerkreisen« in der Türkei den Appetit vergrößert hat, kam zum gleichen Zeitpunkt wie die Erklärung, man könne von dieser Politik abweichen. Denn hochrangige türkische Politiker, an der Spitze der Ministerpräsident, hatten sich gegen einen militärischen Eingriff gegen den Irak ausgesprochen. Letzte Pressemeldungen betonen ebenfalls eine Kehrtwendung: »Wenn es Hinweise gibt, dass der Irak den Terror unterstützt, wird die Türkei dem Eingriff nicht widersprechen, sondern sich sogar beteiligen.« Dabei wird die türkische Öffentlichkeit, die absolut gegen einen Krieg mit dem Irak ist, mit einer neuen Frage konfrontiert: Die USA werden in jedem Fall im Irak eingreifen und Saddam stürzen. Wenn die Türkei dieses Vorgehen von Anfang an unterstützt, kann sie nach dem Ende der Ära Saddam belohnt werden. Also, warum nicht? Es sind nicht wenige, die die türkische Öffentlichkeit auf dieses Klima vorbereiten.

Ähnliche Vorschläge standen auch während des »Irak-Feldzuges« unter Bush I auf der Tagesordnung. Während überwiegend US-amerikanische Streitkräfte im Norden die Befreiungsoperation für Kuwait durchführten, wurde ein Angriff der Türkei von Norden her und die Besetzung Nordiraks vom damaligen Ministerpräsidenten Turgut Özal mit den Worten »ich setze eins und nehme drei« offen angesprochen. Da allerdings die türkische Armee gerade zu dieser Zeit mit dem »Kurdenproblem« in großen Kalamitäten war und keine Lust auf neue Abenteuer im »Morast des mittleren Ostens« hatte, wurde Özal gebremst. Zuletzt kritisierte der Chef des Generalstabs diese Pläne und trat zurück. Damit musste Özal sein Vorhaben aufgeben. In dem Maße, in dem das »Kurdenproblem« langsam von der türkischen Tagesordnung verschwindet, werden Widersprüche gegen solche Pläne immer seltener geäußert. Schließlich ist die in Aussicht gestellte Belohnung, nämlich Mosul, ein »türkisches« Gebiet. Bis in jüngere Zeit bestanden die Einwohner mehrheitlich aus Türken und Kurden. Aufgrund der »protürkischen« Einstellung der dortigen Türken und der Türkeiphobie des Iraks wurde Mosul stets als ein Problem betrachtet. Nicht zuletzt aus diesem Grunde war die Bevölkerung dieser Region das letzte halbe Jahrhundert dem besonderen Druck des irakischen Regimes ausgesetzt. Für manche gehört Mosul eben geschichtlich und juristisch zur Türkei. Dieses Gebiet befand sich innerhalb der Grenzen des von den kemalistischen Revolutionären nach der Niederlage des 1. Weltkrieges proklamierten neuen Staates. Aufgrund der intensiven Intrigen des englischen Imperialismus blieb Mosul außerhalb der türkischen Grenzen. Diejenigen, die den 11. September und den Afghanis-tankrieg als eine Gelegenheit zur Wiedervorlage einer historischen Rechnung betrachten, stützen sich auf diese Gründe.

Diese Szenarien werden von Befürchtungen begleitet, dass ein oder mehrere kurdische Staaten – die sich im Nordirak zunehmend proamerikanisch entwickeln – durch einen solchen Angriff »offiziellen« Charakter gewinnen könnten. Bekanntermaßen würde die Türkei kaum akzeptieren, Nachbar eines oder mehrerer kurdischer Staaten zu sein und in einem solchen Fall vermutlich auch eine Auseinandersetzung mit ihrem wichtigsten Verbündeten, den USA, in Kauf nehmen. Vor einiger Zeit tauchte der Vorsitzender der in der Türkei legalen kurdischen Partei HADEP, Murat Bozlak, mit einem interessanten Vorschlag auf: Er sprach sich gegen ein Eingreifen gegen den Irak aus und erklärte, dass man über eine Vereinigung nachdenken könne, wenn die Bevölkerung im Nordirak dieses wünsche.

Wie man es auch betrachtet, Tatsache ist, dass seit dem 11. September in der Türkei weitgehend eine »klammheimliche Freude« über den Anschlag auf das World Trade Center herrscht. Selbst die Regierenden brachten dies, wenn auch nur indirekt, zum Ausdruck: Nach ihrer Meinung wurde die Türkei in ihrem Kampf gegen den (kurdischen) Terror vom Westen bisher eher behindert als unterstützt. Diejenigen, die die Türkei »spalten« wollten, hätten von westlichen Verbündeten Unterstützung und Verständnis erhalten und seien schließlich sogar als Partner akzeptiert worden. Dass die Türkei im Kampf mit dem Terror sich nicht mit der Polizei begnügte und das Militär einsetzte, sei vom Westen oft kritisiert worden. Der 11. September bewirke demgegenüber, dass die westlichen Verbündeten nun endlich verstünden, was die Türkei schon seit langem durchzumachen hatte. Die Maßnahmen zur Erhöhung der inneren und äußeren Sicherheit, die für den »zivilisierten und demokratischen Westen« im Kampf gegen den Terrorismus nun auf die Tagesordnung kommen, führten die Ungerechtigkeit der Kritik gegenüber der Türkei aller Welt jetzt vor Augen. Was im Westen passiert, bewerteten die Regierenden in der Türkei in diesem Sinne als »Selbstkritik« des Westens bezüglich seiner Türkeipolitik.

Gleichzeitig erlebt die Türkei momentan die größte Finanzkrise ihrer Geschichte. Sie weiß aber, dass in der veränderten weltpolitischen Situation nach den Anschlägen in New York auch die Chance liegt, von IWF, Weltbank und den westlichen Verbündeten neue finanzielle Unterstützung verlangen zu können. Dass sie in der »Anti-Terror-Allianz« eines der aktivsten Mitglieder ist, dürfte auch hierin einen Grund haben.

Nach dem Attentat vom 11. September forderte ein eifriger Zuständiger bei einem Fußballspiel in Istanbul mehr als 40 000 Zuschauer zu einer Gedenkminute für die Opfer von New York und Washington auf. Die Reaktion der Masse war ein weiterer Ausdruck der »klammheimlichen Freude«. Viele interpretierten diese Aufforderung anders als gemeint und tobten sich im Stadion mit dem Ausruf »zum Teufel mit Amerika« aus.

Als die Möglichkeit der Entsendung türkischer Soldaten nach Afghanistan auf die Tagesordnung kam, ergaben Umfragen, dass die Mehrheit der Bevölkerung dagegen ist. So sagte etwa eine alte Frau gegenüber einem Fernsehsender: »Ich würde nicht mal meinen Hund hinschicken. Amerikaner sind sich zu gut dafür. Unsere Kinder sollten nicht für deren Ziele sterben.« Und damit sprach sie wohl für die Mehrheit der Bevölkerung. Die von einer Gruppe von Wissenschaftlern der Ege Universität in Izmir gestartete Umfrage, darüber, worin die Rolle der Türkei in Afghanistan oder bei möglichen militärischen Aktionen gegen andere Länder bestehen solle, ergab, dass sich 38 % entschieden gegen eine Beteiligung der Türkei aussprachen. Für die Entsendung türkischer Soldaten votierten nur 1 %. Insgesamt sprachen sich fast 90 % der Bevölkerung gegen ein militärisches Engagement der Türkei an der Seite der USA aus.

 

 

Nun, was bedeutet das alles?

 

Erstens: Der Widerstand der Bevölkerung gegen den Krieg resultiert nicht nur aus der Stärke des politischen Islam. Die islamische Bewegung hat in letzter Zeit innere Spaltungen durchlebt und wurde durch Interventionen des türkischen Militärs entscheidend geschwächt. Diese Interventionen werden von einigen Kreisen auch als »postmodern« bezeichnet. Der politische Islam hat auch ideologisch seinen alten Einflussbereich weitgehend verloren.

Zweitens: Der Widerstand der Bevölkerung gegen den Krieg hat seinen Grund auch nicht in der Haltung der türkischen Linken. Die türkische Linke hat zwar, ohne zu zögern, offen abgelehnt, »eine Wahl zwischen den Armeen eines Kreuzzuges und des Djihads zu treffen« und ihr »Nein« zum Krieg ausgesprochen. Trotzdem hat sie, wie auch andere Linke in der Welt, Schwierigkeiten, aus dem Kessel der Einflusslosigkeit herauszukommen und sich als eine unabhängige politische Kraft zu formieren. Nicht zuletzt die Spaltungen der Linken in der letzten Zeit sind ein Grund für ihre Wirkungslosigkeit in der Öffentlichkeit. Deshalb kann von einer »Führerschaft« der Linken im Widerstand der Bevölkerung gegen den Krieg kaum gesprochen werden. Hinzu kommt, dass die kurdische Bewegung, die früher mit den türkischen Linken kooperierte, sich von ihnen weitgehend abgesetzt hat. Die eigentlichen Protagonisten der von den türkischen Linken in den letzten 40 Jahren auf die Tagesordnung gebrachten »kurdischen Leiden« sind auf der Suche nach anderen Wegen: Die neue Generation kurdischer Politiker sucht die Lösungen nicht mehr in linker Politik und in einer unab-

hängigen gemeinsamen Aktion, sondern in den vom Westen hervorgebrachten Szenarien und kann mittlerweile sogar mit dessen »Wohlwollen« rechnen.

Drittens: Die Ablehnung des Krieges ist auch als Produkt des sozial-psychologischen Zustandes der türkischen Bevölkerung zu sehen. Die Tatsache, dass der Angriff der militärisch mächtigsten Armeen der Welt einem militärisch schwachen Ziel gilt, oder anders ausgedrückt, sich die Reichsten der Welt auf eines der ärmsten Länder stürzen, steht im Widerspruch zum gesellschaftlichen Gerechtigkeitsgefühl in der Türkei.

 

 

Aber es macht keiner Politik, in dem er das »Volk« fragt

 

Im politischen Vakuum nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus auf dem Balkan, im Kaukasus, im Mittleren Osten und Mittleren Asien hat sich die Türkei als »Rammbock« des Westens

in hegemoniale Auseinandersetzungen begeben. Die die türkische Politik dominierende Rechte bewertet die Situation als neue Gelegenheit. Eine Türkei aber, die wirtschaftlich eine große und anhaltende Katastrophe durchlebt, kann eine türkische Hegemonie, die sie in der Geschichte einmal hatte, in diesen Gebieten nicht wieder erringen. In diesem Zusammenhang haben die Träumer in allen vier Gebieten nacheinander Enttäuschungen hinnehmen müssen. Die letzte Enttäuschung war, dass die Afghanistan Konferenz nicht in Ankara, sondern in Bonn stattfindet.

Die Regierenden der Türkei, die türkische Rechte, versuchen, durch die Anbiederung an den Imperialismus bei der neuen Aufteilung der Welt ihren Teil zu erhalten. Sie versuchen es trotz des inneren Widerstandes der Bevölkerung. Sie denken, in einer Zeit, in der linke Freiheitspolitiken immer mehr in Vergessenheit geraten, die Bevölkerung sofort alles vergesse und zum Unterstützer selbst der reaktionärsten Politik werde. Die reaktionären Kräfte der Türkei glauben, mit der Erbschaft des Osmanischen Reiches im Hintergrund auf der politischen Bühne einen überaus weiten Bewegungsraum zu besitzen.

Dafür gibt es viele Beispiele: Die Bevölkerung stellte sich auch gegen den Koreakrieg. Die USA und Südkorea erhielten für ihren Krieg gegen China und Nordkorea eine durchaus großzügige militärische Unterstützung seitens der Türkei. Eine große Zahl junger türkischer Soldaten starb in einem Tausende von Kilometern entfernten Krieg, der keinen direkten Bezug zur Türkei hatte. Aber mit Hilfe der Medien änderte sich das Klima in der Bevölkerung sehr rasch. Die türkischen Soldaten gingen nach Korea, um die »Freie Welt« vor dem Kommunismus zu schützen. Sie kämpften heldenhaft und starben. Und das Wichtigste, sie kämpften besser als die Anderen. Das türkische Volk ist, wie man weiß, ein Volk von Kriegern. Diese Legende war so mächtig, dass noch heute, ein halbes Jahrhundert später, die Rolle der Türkei im Koreakrieg nicht ernsthaft kritisiert wird. Der einzige Einspruch kam vom »Verein für Frieden«, der von einer Hand voll Sozialisten Anfang der 50er Jahre gegründet wurde. Für ihren Einspruch haben diese Menschen einen sehr hohen Preis gezahlt. Ihre Aktivitäten jedoch blieben ohne Einfluss.

Dasselbe hat sich während des Unabhängigkeitskampfes in Algerien wiederholt. Die algerischen Revolutionäre, die den türkischen Befreiungskampf zum Vorbild hatten, wurden von der türkischen Bevölkerung »innerlich« unterstützt, doch war die Türkei eines der Länder, die zusammen mit Frankreich in der UN-Vollversammlung bei der Abstimmung über die Unabhängigkeit Algeriens mit »Nein« stimmten. Und auch das wurde für die türkische Bevölkerung nicht zu einem Problem.

Zusammenfassend kann gesagt werden: Es ist richtig, dass die Bevölkerung gegen Kriegsabenteuer ist. Doch es ist nicht davon auszugehen, dass der Widerstand nennenswerte Auswirkungen haben wird.

 

 

Doch das Problem liegt nicht hier

 

Das Problem ist vielmehr folgendes: Die Türkei hat bisher in ihrer Geschichte noch keine derartige gesellschaftliche Verarmung und keinen

vergleichbaren Rückschritt erleben müssen wie heute. Mit konventionellen politischen Maßnahmen ist für dieses Leid keine Lösung zu finden. Die Bevölkerung befindet sich auch in

diesem Jahr angesichts der Wucht eines erwarteten wirtschaftlichen Abschwungs von neun Prozent in einem Zustand der Ohnmacht. Angesichts dieser Ohnmacht, ist es entmutigend, dass die türkische Linke, obwohl sie über eine nicht zu vernachlässigende intellektuelle Basis verfügt, nicht im Stande ist, gemeinsam ein alternatives Programm zu entwickeln. Es gibt zwar einzelne Intellektuelle, die darüber nachdenken. Aber sie bleiben ohne Einfluss. Obwohl sich alle, außer den »Blinden von Ankara« darüber einig sind, dass die Türkei  und ihre Nachbarn einer ungewissen, finsteren Zukunft zusteuern. Keiner sieht das Ende des Tunnels.

Demgegenüber hält die Vorliebe der westlichen Welt an, alle Probleme auf dem Rücken der Entwicklungsländer auszutragen. Welche Konsequenzen könnte diese Haltung haben? Gegen die Kriegspolitik von Schröder und Fischer war in Deutschland oder in Europa kein großer gesellschaftlicher Widerstand zu beobachten. Es sind auch keine Zeichen vorhanden, die darauf hinweisen, dass kurzfristig solch ein Widerstand entstehen könnte. Die »Blinden von Ankara« unterscheiden sich insofern nicht von den Blinden von Berlin, Paris, Rom und Washington.

Zum Schluss noch dieses: Colin Powell und die Bush-Administration, die Herren des »modernen Römischen Imperiums«, steuern auf ein Zeitalter der militärischen Ökonomie zu. Sie suchen neue Feinde und sie machen diese Feinde unter denen aus, die sich gegen ihre Politik stellen. Bisher verhalten sie sich Ankara gegenüber »gutmütig«, weil Ankara alles mit »Ja« beantwortet. Aber was passiert, wenn die klassische kemalistische Politik, nach dem Motto »Frieden im eigenen Land, Frieden auf der Welt«, wieder auf die politische Tagesordnung kommt? Wird dann die Türkei in Reihe mit Taliban, Saddam und Gaddafi genannt werden?

Der für die Erweiterung der EU zuständige Kommissar Günter Verheugen hatte, als es noch Bomben auf Jugoslawien regnete, in einem Interview, das wir für die Zeitung »Cumhuriyet« führten, die Frage: »Heute der Balkan und morgen, wegen ähnlicher ethnischer, menschenrechtlicher usw. Motive die Türkei?« mit harschen Worten zurückgewiesen und behauptet, es gebe da »keine Zusammenhänge«.

Zwei Jahre später ist festzustellen, dass sich in der neuen Weltunordnung alle Steine verschoben haben. Auf wessen Köpfe werden – für die Neuordnung der Welt – die Steine seitens der hegemonialen Kräfte geworfen werden? Wir erleben ein »neues Mittelalter«. Aus dieser Finsternis können wir nur mit neuen Intellektuellen herausfinden. Dabei sieht es leider nicht so aus, dass die westliche Welt eine »Vorreiterrolle« spielen wird.

 

Gürsel Köksal, Osman Çutsay