Interview mit Pinar Selek

 

18. Oktober 2001 * Istanbul

 

von Frauen Flucht Netz, Tübingen / Stuttgart

 

 

 

Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrungen im Antiterrorkampf darf nun auch die Türkei Elitesoldaten nach Afghanis-tan zur Ausbildung dortiger Militärs schicken. Im Windschatten ihrere Beteiligung am internationalen Feldzug gegen den Terrorismus geht die tür-

kische Regierung erneut massiv ge-

gen die versprengten demokratischen Kräfte im Land vor. Erst letzte Woche wurden wieder zahlreiche linke Zeitungen- und Kulturprojekte durchsucht, Material beschlagnahmt und MitarbeiterInnen festgenommen. Während ei-ner Delegationsfahrt im Oktober nach Istanbul hatten wir die Gelegenheit die repressive Atmosphäre mitzuerleben und mit Pinar Selek, Soziologin und Mitbegründerin einer Frauen-Friedens-initiative zu sprechen. Selek, die aufgrund ihrer soziologischen Arbeiten über den Krieg in den kurdischen Gebieten zwei Jahre in Haft saß, organisierte nach ihrer Freilassung letzten Jahres drei Begegnung zwischen kurdischen, türkischen und armenischen Frauen. Nicht nur diese einmalige Friedensinitiative, der sich von Mal zu Mal mehr Frauen anschlossen, brachte sie erneut ins Fadenkreuz der Sicherheitskräfte. Auch die von ihr mitinitiierte Frauenstudien-, Ausbildungs- und Kulturkooperative »ANAHIT«, die später in eine Frauenakademie überführt werden soll, ist ständig von der Schließung bedroht.

 

?-: Die türkische Regierung legitimiert seit Jahren ihr Vorgehen gegen die demokratisch-fortschrittlichen Kräfte als Kampf gegen den Terrorismus. Hat der internationale Krieg der USA und der NATO gegen Afghanistan, der ja auch als Feldzug gegen den Terrorismus definiert ist, Auswirkungen auf die Situation hier in der Türkei?

 

!-: Für die Situation in der Türkei bedeutet die aktuelle internationale Entwicklung mehr Menschenrechtsverletzungen, mehr Repression und mehr Krieg. Der von den USA begonnene und ziemlich undurchsichtig als »Antiterrorkampf« definierte internationale Krieg fällt in eine Zeit, in der in der Türkei sich der Kampf für Frieden recht weit entwickelt hat. Mit der Fortentwicklung des Friedenskampfes fühlten sich die kriegsbefürwortenden Kräfte in der Türkei, insbesondere diejenigen innerhalb des Staates, zunehmend gestört. Die so genannte internationale Antiterrorkampagne macht es für den tür-

kischen Staat nun um einiges leichter, seine vorherige Politik wieder aufzugreifen.

 

?-: Der Krieg gegen Afghanistan wird im Westen als »Kreuzzug der Zivilisation gegen die Barbarei=Islam« verbrämt. Ich könnte mir vorstellen, dass diese Definition hier in der Türkei zu sehr widersprüchlichen Posititionen führt.

 

!-: Am stärksten wird der Krieg von den Kommentatoren in den Zeitungen unterstützt. Es wird so

dargestellt, als würde die Öffentlichkeit den Krieg befürworten. Tatsächlich gibt es aber eigentlich keine Unterstützung der Bevölkerung für den Krieg. Erstens, weil es eine islamische Gesellschaft ist, aber das ist nicht der eigentliche Grund. Verschiedene, auch intellektuelle Kreise in der Türkei hinterfragen, was »Zivilisation« eigentlich bedeutet. Ist die Zivilisation wirklich im Westen realisiert worden oder kann sich im Osten eine andere Zivilisation verwirklichen? Ich teile nicht die Meinung, dass es sich bei dem jetzigen Krieg um einen Kreuzug handelt, aber die Islamisten sind dieser Auffassung. Meiner Meinung handelt es sich um eine gewollte Neustrukturierung der bisherigen Weltordnung.

 

?-: Welche Auswirkungen haben der Krieg und die Diskussion darum auf die fortschrittlichen Kräfte in der Türkei?

 

!-: Ich denke, dass die linke Opposition in der Türkei ihre Rolle bisher nicht ausgefüllt hat. Es hat ein sehr harter, 15 Jahre dauernder Krieg stattgefunden und die Opposition in der Türkei tut so, als ob das gar nicht gewesen wäre. Sie ist völlig unaufmerksam dem eigenen Osten gegenüber, hat keine Informationen über den Osten und über den dortigen Krieg. Die Opposition in der Türkei muss zunächst eine Sensibilität für die Realität des Krieges im eigenen Land entwickeln, diese mit weltweiten Kämpfen für Frieden und Demokratie verbin-

den und so einen eigenen Kampf führen.

?-: Gibt es denn Bündnisse in der Türkei gegen den internationalen Krieg?

 

!-: Soweit wir aus den Medien mitkriegen, gibt es im Ausland eine gewisse oppositionelle Bewegung. Aber in der Türkei ist eine solche Plattform oder eine organisierte Opposition aufgrund der Repression des Staates bislang nicht entstanden. Es hat verschiedene Versuche gegeben, aber aufgrund der Gewalt des Staates herrscht einfach Angst. Zur Zeit wird jede Friedensforderung als Terrorismus bewertet. Ich denke, wir müssen beharrlich bleiben, aber der Mut für den Kampf für Frieden wird zur Zeit nicht aufgebracht.

 

?-: Welche kleinen Versuche gab es denn?

 

!-: Nach dem 11. September gab es zum Beispiel drei voneinander getrennte Versuche, eine Plattform zu bilden. Der erste wurde von Frauen gemacht, also von Mitgliedern verschiedener Frauenorganisationen. Desweiteren gab es eine gemeinsame Plattform der Gewerkschaften und Parteien. Beide wurden sofort verboten. Leute, die daran teilnehmen wollten, wur-

den festgenommen. Das Büro einer Frauenzeitschrift, die überhaupt keine politische Organisierung hat, wurde durchsucht und die Mitarbeiterinnen bedroht. Dann gab es einzelne Presseerklärungen von Parteien wie ÖDP und HADEP. Auch diese wurden behindert. Es gab eine Frauensolidaritätsgruppe, die wir überlegt zusammengestellt haben, indem wir bekannte Journalistinnen daran beteiligt haben. Diese konnte zwar nicht verhindert werden, aber später wurden die daran beteiligten Menschen zum Teil mit dem Tod bedroht und schikaniert.

Die herrschenden Kräfte lassen es einfach zu keiner Bewegung kommen. Die Plätze, auf denen Presseerklärungen abgegeben werden sollen, werden im Voraus von der Polizei besetzt, es gibt Drohungen, Festnahmen, Überfälle, Razzien. Zur Zeit existiert also nicht einmal die Möglichkeit, eine Presseerklärung abzugeben, von Demonstrationen und ähnlichem ganz zu schweigen.

 

?-: Plant ihr dennoch weitere Aktionen gegen den Krieg?

 

!-: Ja, das haben wir gerade entschieden, denn durch die unklare Definition von Terror durch die Herrschenden werden zur Zeit alle Unterdrückten zur Zielscheibe, jeder Kampf für Demokratie und Frieden. Wir wollen dagegen unsere eigene Definition von Terror entwickeln, deren Rahmen eindeutig ist und die staatlichen Terror miteinschliesst. Gleichzeitig ist es wichtig, dass Frauen Aktionen durchführen. Deshalb sind alle aufgefordert, mit unser Frauenakademie Kontakt aufzunehmen, die türkische, kurdische und armenische Frauen von kurzem gegründet ha-ben. Diese Akademie ist sehr wichtig für uns. Wir haben vorhin von Zivilisation gesprochen. Sie ist eine theoretische und praktische Plattform, auf der wir angelehnt an unsere Gewalterfahren und die politische Atmosphäre darüber diskutieren können, wie wir eine alternative gesellschaftliche Einigung erreichen können. Ich rufe alle Frauen der Welt und auch Männer, denen das patriarchale System nicht passt, zur Unterstützung dafür auf.