diskus 3/98

Blairs Cool Britannia: Thatcherismus mit menschlichem Antlitz
Interview mit Bob Jessop

Merkwürdig ist das schon: Bestach die offizielle Politik Englands in den letzten zwei Jahrzehnten durch die autoritäre old-fashion Politik des Thatcherismus, feiert derzeit gerade dort die modernisierte Sozialdemokratie ihre Erfolge und läßt einen Regierungschef durch Land und Medien lächeln, dessen Krawatten nicht notwendig dunkelblau, grau oder peinlich danebengegriffen sind. Und so gilt jener smarte Premier als Vorbild für Europas und nicht zuletzt Deutschlands Sozis. Die Inszenierung lebt und will gekonnt sein. Das folgende Interview mit Bob Jessop geht der Frage nach, wie New Labour über einen neuen Repräsentationstypus von Regierungspolitik hinaus einzuschätzen ist: Stehen die initiierten politischen Projekte für eine Abkehr von der sozialen Polarisierungspolitik des Thatcherismus, führt New Labour diese fort oder produziert sie neue Formen der Spaltungen?

Bob Jessop, Professor für Soziologie an der Universität Lancaster, arbeitet zu marxistischer Staats- und Regulationstheorie und zur Transformation des Wohlfahrtsstaates in Skandinavien, Großbritannien und Deutschland. In den 80er Jahren bezeichnete er den Thatcherismus in einer Debatte in der New Left Review als »Zwei-Nationen-Projekt« (s.u.) und setzte sich kritisch mit Stuart Halls Charakterisierung des Thatcherismus als »autoritären Populismus« auseinander. (vgl. Das Argument 152) Das Interview mit Bob Jessop zu New Labour wurde im Mai diesen Jahres in Frankfurt am Rande der Tagung »Kein Staat zu machen« geführt.

diskus: Für die kommende Bundestagswahl rechnet sich die SPD mit Gerhard Schröder als Kanzlerkandidat beste Chancen aus. In der Linken dominieren derzeit zwei Einschätzungen einer zukünftigen Regierung Schröder: Die einen erhoffen die Abkehr von neoliberaler bzw. neokonservativer Politik, den anderen gilt Schröder bloß als neuer Kohl. Als Vorbild der mit Schröder modernisierten Sozialdemokratie gilt Tony Blairs New Labour. Was läßt sich nach einem Jahr Blair als Premierminister von Großbritannien über die Politik New Labours sagen?

Bob Jessop: Um Blair und damit Schröder zu verstehen, muß man sich auch Clinton anschauen. Blair und Clinton hatten nicht nur ähnliche Wahlstrategien. In der Sozialpolitik verfolgt Blair die Strategie welfare into work – und das ist eindeutig Clintons Politik. Das Motto welfare into work zielt auf die jungen Arbeitslosen und bedeutet, daß sozialstaatliche Hilfen dazu dienen sollen, wieder einen Job zu finden. Wohlfahrt, soziale Sicherheit, Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, das hat alles nur einen temporären Charakter. In der Wirtschaftspolitik dagegen hat es Blair viel schwerer, mit einer Labour-Regierung die hart neoliberale Politik von Clinton zu betreiben. Hier sollte man sich eher mit Major beschäftigen, denn New Labour muß das Erbe von 18 Jahren konservativer Regierung verwalten. Und das besteht in erster Linie in der Politik einer strikten Haushaltsdisziplin, womit jede Politik, die etwas kostet, ausgeschlossen ist, sofern der Betrag nicht von einem anderen Posten gekürzt wird. New Labour hatte sie aus wahltaktischen Gründen übernommen, weil sie meinten, nur mit dem Versprechen gewinnen zu können, keine höheren Steuern zu erheben. Gegen Ende seiner Amtszeit war Major allerdings so unpopulär, daß sie mit beinahe jedem Programm die Wahlen hätten gewinnen können – auch mit Steuererhöhungen. Ihren Kurs haben sie dennoch nicht mehr geändert.

Blair scheint darüber jedoch nicht allzu unglücklich zu sein. Er nutzt die Fortsetzung der neoliberalen Wirtschaftspolitik der Konservativen vielmehr zu einer kontinuierlichen Transformation in ein workfare-regime. New Labour steht also weniger für einen radikalen Bruch als für die Konsolidierung des Thatcherismus.

diskus: Das spricht für die Kontinuitätsthese.

Bob Jessop: Dennoch macht es einen Unterschied, ob die Sozialdemokraten jetzt regieren oder nicht. John Major wäre zum Beispiel nicht in der Lage gewesen, das Abkommen in Nordirland auszuhandeln oder Schottland und Wales mehr Autonomie einzuräumen. Eine humanere Haltung gibt es in der Migrationspolitik, etwa in der Frage der Familienzusammenführung. Zwar wollten auch die Konservativen die Familien zusammenführen, die Leute dafür aber zurück nach Pakistan, Indien oder Bangladesch schicken. Labour dagegen sagt: Wir akzeptieren das Bedürfnis nach Zusammenführung, ihr könnt eure Familien hierher bringen.

diskus: Die Schottlandpolitik Blairs wurde hierzulande von manchen Kommentatoren als Demokratisierung gefeiert. Unter Thatcher wurde etwa die damalige Labour-orientierte Stadtverwaltung von London schlicht abgeschafft. Kann man vielleicht von den Regionen eine Abkehr vom Thatcherismus erwarten?

Bob Jessop: Von der Linken, Labour und New Labour eingeschlossen, wurde die ungleiche Entwicklung der Regionen im Thatcherismus immer stark kritisiert. Die neoliberale Politik schuf eine Situation, in der die Wirtschaft des Südostens, besonders Londons, stark wuchs, während im Norden, Wales und Schottland, die Arbeitslosigkeit anstieg und die Wirtschaft niederging. Grundsätzlich billigt Blair Wales, Schottland, auch anderen Regionen und den Kommunen mehr Eigenverantwortlichkeit zu und errichtet wieder städtische Regierungen wie die Greater London Authority. Aber es dürfen keine Mehrausgaben entstehen, sie dürfen auch keine Schulden aufnehmen. Als Schottland etwa das Recht bekam, eigene Steuern zu erheben, versprach Blair, solange von diesem Recht keinen Gebrauch zu machen, wie Labour im schottischen Parlament die Mehrheit hat. Für die Entwicklung der Regionen wird es kein Geld von der Zentralregierung geben. Es könnten Gelder umverteilt werden, das ist allerdings höchst unbeliebt. London etwa als Großbritanniens nationaler Champion ist eine global city, ein kulturelles Zentrum. London international wettbewerbsfähig zu halten und die Probleme als global city im Zaum zu halten, kostet schon genug.

diskus: Worin liegt dann der Sinn der Regionalisierung? Handelt es sich nur um Scheininstitutionen?

Bob Jessop: New Labour glaubt nicht mehr daran, daß es die Aufgabe einer Zentralregierung sei, einen national einheitlichen Plan zu entwerfen, um die Probleme der Arbeitslosigkeit zu lösen oder um die Wettbewerbsfähigkeit der Regionen zu stärken. Wir haben also die merkwürdige Situation, daß die Behörden mehr und mehr Autorität erhalten und tun können, was sie wollen, solange dies kein Geld kostet. Wenn sie in der Lage sind, private Sponsoren für den Wohlfahrstssektor oder andere effektive Wege der Selbstfinanzierung zu finden, dann dürfen sie auf unterschiedlichste Art experimentieren. Aber wenn dies in irgendeiner Weise die öffentlichen Ausgaben auf zentraler oder lokaler Ebene ansteigen läßt – dann nicht. Das sind schlanke Behörden, keine interventionistischen Behörden. Die kommunale Standortpolitik etwa investiert nicht in Technologieparks, sondern spricht Einladungen aus wie: Yes, please company, komm in unsere Stadt, du wirst Steuerferien haben und wir werden die Arbeiter bändigen.

diskus: In den achtziger Jahren hast du den Thatcherismus einmal als Two-Nations-Projekt bezeichnet, das mit einer Spaltung der Gesellschaft in »Produktive« und »Parasiten« arbeitet: Produktiv seien die, deren Arbeit ohne staatliche Subventionen verwertet werden kann, während als parasitär nicht nur die Armen gälten, sondern auch diejenigen, deren Beschäftigung »unrentabel« sei. Die soziale Basis, an die sich Thatcher wandte, waren allein die Produktiven. Was ist mit dieser Spaltung passiert, gibt es die beiden Nationen noch im freundlichen Thatcherismus von New Labour?

Bob Jessop: Zwischen Blair und Thatcher gibt es schon auf der persönlichen Ebene erhebliche Unterschiede. Mrs. Thatcher hat einen stark kleinbürgerlich geprägten Hintergrund, mit allen Werten des englischen Krämers. Ihre traditionelle kleinbürgerliche Mentalität hat sie immer beibehalten, auch wenn sie sie durch die Lektüre von Leuten wie Adam Smith theoretisch aufbereitet hat. Thatcher sah alles in moralischen Kategorien: Individuen seien für sich selbst verantwortlich. Tony Blair dagegen ist in erster Linie christlich-sozial – aber nicht puritanisch – und instinktiv viel stärker an der One-Nation orientiert. Blairs Politik hat zwar auch eine moralische Orientierung, aber das Individuum bleibt gegenüber der Gemeinschaft verantwortlich.

Unter Gemeinschaft darf hier aber nicht die traditionell Sozialdemokratische verstanden werden. New Labour steht vielmehr für die Stärkung der Familie und deren Verantwortung – und löst damit auch die Vorstellung vom traditionellen Wohlfahrtsstaat ab. Die Idee ist, daß man sich zwar nicht darauf verlassen kann, daß der Markt alles regelt, aber auch der Staat nicht alles machen kann. Also muß, vermittelt über die Familie, eine gemeinschaftliche Basis geschaffen werden, die viele der Aufgaben der staatlichen Wohlfahrt übernimmt. Für Blair liegt es nicht in der Verantwortung des Staates, auf die Leute aufzupassen, vielmehr tragen die einzelnen die Verantwortung, gegenseitig für sich zu sorgen. Das ist Thatcherismus mit menschlichem Antlitz.

Diese Vorstellung vom Volk unterscheidet sich aber auch von der autoritär-populistischen Thatchers. So wie Diana the peoples princess war, gibt es auch die Idee von einer Partei des Volkes. Die Art, wie der Tod von Prinzessin Diana gehandhabt wurde, war ungeheuer populär und hat dazu beigetragen, das Ansehen der neuen Regierung zu festigen. Das ist nicht die traditionell konservative One-Nation, sondern eine neue Form von One-Nation im Zeitalter der postindustriellen Massenkultur, für Leute, die multikulturell, jung und cool sind. Das Großbritannien Blairs ist Cool Britannia. Blair versucht sich mit allem zu identifizieren, was cool ist. Er spielt Gitarre, er sagt, daß er Oasis mag, er lädt Pop- und Fußballstars zu sich ein.

Der Populismus von Blair ist somit auch nicht mehr traditionell sozialdemokratisch, nicht mehr gegen die Reichen und für die Arbeiterklasse. Blair ist – wie Clinton – die erste Generation von politischen Führern, die der Nachkriegsgeneration angehören. Für ihn ist es genauso in Ordnung, reich zu sein oder hart zu arbeiten und zur Mittelkasse zu gehören, wie es okay ist, arm zu sein.

diskus: Ist es auch okay, arbeitslos zu sein?

Bob Jessop: Nein, das nicht! Aber nicht weil man faul wäre, wie es Thatcher jedem Arbeitslosen unterstellt hat, um sie zur Arbeit zwingen zu können. Für New Labour dagegen bedeutet arbeitslos zu sein, daß man keine ganze Person mehr ist, daß man sich nicht so entfalten kann, wie es möglich wäre. Deshalb ist Arbeit wichtig. Arbeit bereichert, Arbeit hebt das Selbstwertgefühl. Das ist eine ganz andere Auffassung als die von Thatcher. Arbeitslosigkeit ist bei Blair kein gesellschaftlicher Status. Wer arbeitslos ist, ist nicht einfach arbeitslos: Nein, wer arbeitslos ist, ist jemand, der einen Job sucht – und dabei hilft ihm New Labour.

diskus: Wie kann man sich diese Hilfen vorstellen? Setzt Blair etwa auf staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme?

Bob Jessop: Nein, das ist eher eine Form der persönlichen Beratung oder der Therapie, vergleichbar mit den Beschäftigungsprogrammen in Dänemark oder den USA, von deren Erfolgen wird andauernd geredet. Du hast es nicht mehr mit einem Bürokraten zu tun, der dich als gesichtslosen Arbeitslosen verwaltet, sondern bist eine konkrete Person, die einen individuell zugeschnittenen Maßnahmenkatalog erhält. Etwa, daß deine Haare ein bißchen lang sind oder daß du einen Anzug brauchst, wenn du einen Job willst. Vielleicht üben sie auch Bewerbungsgespräche mit dir oder zahlen dem Arbeitgeber einen Zuschuß, wenn er dich einstellt. Wenn das alles nicht klappt, verhelfen sie dir vielleicht auch zu etwas Arbeitserfahrung, wenn es angemessen erscheint. Das Ziel bleibt aber ein richtiger Job.

Ich spreche hier freilich nur über Strategien, die bisher formuliert wurden. Wie man weiß, kann das anders aussehen, wenn Bürokraten Strategien in die Praxis umsetzen. Zudem handelt es sich um unglaublich teure Programme, denn man braucht für jeden Arbeitslosen einen Betreuer. In den USA hat das nur in kleinen Experimenten funktioniert. Allen britischen Arbeitslosen diese Programme aufzuerlegen, wäre viel zu teuer – jedenfalls bei der Finanzpolitik von New Labour. Daher glaube ich, daß sie letztlich darauf vertrauen, daß die Wirtschaft kontinuierlich wächst und dadurch das Problem der Arbeitslosigkeit gelöst wird.

diskus: Eine Alternative zum Wirtschaftswachstum wäre das Konzept der Arbeitszeitverkürzung, also eine andere Verteilung der vorhandenen Lohnarbeit. In Frankreich und Italien ist die 35-Stunden-Woche beschlossene Sache. Finden innerhalb der Labour Party Diskussionen über solche Modelle statt?

Bob Jessop: Nicht bei New Labour, aber in ihrem Umfeld. Da gibt es manche Diskussionen über eine Reduzierung der Wochenarbeitszeit, über Job-Sharing bzw. Job-Rotation. Daß dies nicht umgesetzt wird, liegt aber unter anderem an den extrem niedrigen Löhnen in Großbritannien besonders für un- und angelernte Arbeiter. Daher wird es schwierig sein, die Wochenarbeitszeit herabzusetzen, wenn dies in irgendeiner Weise mit einer Senkung der Löhne verbunden ist. Es sei denn, dies würde wie etwa in Frankreich staatlich subventioniert werden.

diskus: In Deutschland werden zur Zeit verschiedene Modelle von Bürgergeld, Grundeinkommen oder Existenzgeld diskutiert. Die Positionen klaffen dabei weit auseinander und reichen von einer reaktionären Vorstellung, daß nur denjeingen Einkommen gewährt werden soll, die soziale Dienste leisten, bis hin zu linken Positionen: Existenzgeld für alle, unabhängig von den erbrachten Tätigkeiten. Einige Teile der Arbeitslosenbewegung fordern zum Beispiel Grundeinkommen und kritisieren den Ruf nach neuen Lohnarbeitsplätzen, mit denen die SPD droht. Gibt es in Großbritannien Forderungen nach Grundeinkommen, um dem Arbeitsethos von Blairs New Labour etwas entgegenzusetzen?

Bob Jessop: Über Grundeinkommen diskutiert hauptsächlich die Linke, denn, ob man nun arbeitet oder nicht, es gibt ja genug Dinge, die man machen kann, ohne dafür bezahlt zu werden oder angestellt zu sein. Es gibt die unterschiedlichsten Entwürfe. In Großbritannien laufen sie derzeit mit einer Reform des Steuersystems zusammen, insbesondere mit der negativen Einkommenssteuer, die in die Beschäftigungsverhältnisse eingreifen würde. Auf lange Sicht ist das ein Projekt von Blair.

Der Schatzkanzler der Labour Regierung, Gordon Brown, versprach in seiner ersten größeren Haushaltsrede dieses Jahr eine Art Grundeinkommen für Familien mit Kindern, das deutlich höher als etwa die Arbeitslosenunterstüzung ist – unabhängig von ihrem sonstigen Einkommen. Bislang konnte es so sein, daß man zum Teil schlechter gestellt war, wenn man einen mies bezahlten Job hatte, als wenn man zu 100% als bedürftig galt und dann auch die medizinische Versorgung kostenlos war, es Wohngeld oder kostenloses Schulessen für die Kinder gab. Mit dieser Reform sollen nun Anreize gegeben werden, Jobs anzunehmen, da zusätzlicher Verdienst nicht mehr wie früher eine Senkung der Sozialleistungen zur Folge hat. Es sollen also durchaus neue Jobs geschaffen werden, auch wenn sie schlecht bezahlt sind, denn dann stockt der Staat das Einkommen auf. Im Effekt ist das eine Art garantiertes Mindesteinkommen, egal wieviel man verdient – aber Lohnarbeit bleibt obligatorisch. Diese Variante von Grundeinkommen wird im britischen Kontext allerdings nur dann funktionieren, wenn Blairs Projekt welfare into work gelingt.

diskus: Wenn die Familie in den Mittelpunkt der Politik rückt und soziale Leistungen auf diese Weise reorganisiert werden, werden damit nicht gerade die geschlechtsspezifischen Spaltungen wieder verstärkt? Was für eine Vorstellung von Familie ist mit diesem Konzept verbunden?

Bob Jessop: Konservative Familienpolitik, Familienordnungspolitik, hat New Labour nicht im Sinn. Die gesetzliche Eheschließung, die Zeremonie vor dem Altar und das Versprechen der lebenslangen Treue, bis das der Tod euch scheidet, meint Blair nicht, wenn er von Familien spricht. Ob du alleinerziehend bist, verheiratet oder nicht, ob du lesbisch oder schwul bist oder aus welcher Beziehung deine Kinder stammen, ist irrelevant. Familienpolitik heißt für New Labour, die intergenerationelle Reproduktion zu unterstützen: Leuten zu helfen, Kinder großzuziehen. Den Familien, also Leuten mit Kindern, soll es ermöglicht werden, am Arbeitsmarkt teilzunehmen und sich zugleich um ihre Kinder zu kümmern. Aber dies ist in der Regel unvereinbar. Alleinerziehende Mütter etwa verdienen selten genug Geld, wenn sie zugleich auf ihre Kinder aufpassen müssen. Die goldene Mitte heißt Kinderbetreuung. So bekommen etwa die Arbeitgeber Zuschüsse, wenn sie eigene Kindertagesstätten einrichten, Selbständige werden unterstützt, wenn sie Betreuungsdienste anbieten und Arbeitslose werden in Kinderbetreuung ausgebildet. Ein großer Teil der Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ist so zugleich Familienpolitik. Familien sollen glückliche Kinder haben, sich um ihre Kinder sorgen können und nicht mehr so gestreßt sein. Die sozialen Kosten, Kinder zu haben, sollen gesenkt werden. Hier fließt auch die Erkenntnis ein, daß die mangelnde Konkurrenzfähigkeit Großbritanniens unter anderem mit der schlechten Erziehungs- und Bildungssituation zusammenhängt.

diskus: Welche Politik macht New Labour bezüglich des Geschlechterverhältnisses? Was passiert im Zuge der workfare-Entwicklung, wenn man sich die Geschlechterverhältnisse im weiteren Sinn anschaut, als gender regime?

Bob Jessop: Blairs New Labour identifiziert sich gerne mit dem modernen Großbritannien, mit der Gleichberechtigung der Frau, mit mehr Frauen auf dem Arbeitsmarkt, mehr Frauen als Manager etc. Ist es nicht wundervoll, daß wir 101 weibliche Labour-MP haben? Praktische Maßnahmen, kohärente Strategien finden sich dagegen kaum. Sie machen eine durch und durch liberale Frauenpolitik. Feminismus hat allerdings in England lange Zeit keine solche Rolle gespielt wie auf dem Kontinent, und Blair denkt wohl, daß er lieber keine schlafenden Hunde weckt. Die Frauenpolitik ist ein weiteres symptomatisches Beispiel, wie New Labour einzuschätzen ist: Jede Menge Rhetorik, aber möglichst nichts, was die Profite der Industrie schmälern würde.

Auf der Ebene formaler Organisiertheit sind die Programme für Job-Sucher oder die Arbeitslosen-Strategien nicht gendered, nicht geschlechstspezifisch. Geschlecht ist jedoch bedeutsam, weil Kinderbetreuung ein wichtiger Teil von welfare into work ist. Und man kann sagen, daß die Verantwortung für Kinder geschlechtsspezifisch ist, weil in der Regel Frauen und nicht Männer die Verantwortung für die Kinder übernehmen. Auf einer formalen Ebene gibt es keine ausdrückliche geschlechstspezifische Dimension, das ist ein Problem von Arbeitslosigkeit. Aber auf einer implementierten Ebene gibt es eine geschlechtsspezifische Dimension, da Kinderbetreuung ein wichtiger Faktor ihrer Strategie ist.

Derzeit sollen mit einem nationalen Programm, einem Appell an den Gemeinsinn, Unternehmer dazu mobilisiert werden, neue Jobs zu schaffen. Die große Frage ist, ob die Unternehmer derart gemeinsinnorientiert sind, daß sie Frauen, die Kinder aufziehen und diese versorgen müssen, einen Job geben. So funktioniert geschlechtsspezifische Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt. Formal ist es für einen Unternehmer aufgrund von Chancengleichheit nicht erlaubt zu sagen: Ich nehme einen Mann und nicht eine Frau. Aber es ist durchaus möglich zu sagen: Ich gebe einem Mann ohne Kinderbetreuungspflichten den Vorzug vor einer Frau, die Kinder zu versorgen hat. In dieser Hinsicht ist New Labour wirklich Old Patriarchat.

diskus: Worin besteht angesichts der vielen Widersprüche, zwischen Rhetorik und Politik oder zwischen Cool Britannia und Old Patriarchat die soziale Basis für das neue Regierungsprojekt? Wer gehört dazu und wer nicht? Und an welchen Stellen könnten oppositionelle Politiken ansetzen?

Bob Jessop: Die soziale Basis von New Labour ist Middle England, davon wird die ganze Zeit geredet. Mit anderen Worten, es sind nicht die Arbeiter, sondern eher die Kleinbürger, oder das big business.

Die soziale Basis ist jeder, der von Thatcher die Nase voll hat – und das ist die Mehrheit der Mittelklassen. Diese Mittelklassen verdienen relativ gut, besitzen ein Häuschen, fahren Auto, haben eine soziale Ader, solange es nicht zu viel Geld kostet, und wollen einen Staat, der sich um die Armen kümmert, solange die Steuern nicht steigen. Es sind die, die rassistische Rhetorik oder Anti-Immigrationspolitik nicht mögen. Sie sind glücklich, eine zivilisiertere Regierung zu sehen, weil sie selber zivilisiert sind. Das ist Middle England!

Aber das bedeutet genauso, daß man nicht zu radikal sein darf. Es dürfen etwa gegenüber der gay-Bewegung nicht zu viele Zugeständnisse gemacht werden. Thatcher war gegen Schwule und Lesben. Labour unterstützt sie – aber nur solange sie sich ihrer minoritären Position in der Gesellschaft bewußt bleiben.

diskus: In Deutschland ist das wohl genau die Neue Mitte, die Schröder sucht. Nicht gerade rosige Aussichten ...

Bob Jessop: Zum keynesianischen Wohlfahrts-Nationalstaat führt kein Weg mehr zurück ...

diskus: Zum Glück!

Bob Jessop: ... Aber man kann in der gegenwärtigen Entwicklung zum »schumpeterianisch-postnationalen-workfare-Regime« gewissermaßen eine humanere Variante gegen die neoliberale stark machen. Der »workfare-Streik« in Dänemark kann da als Vorbild dienen. Dort haben die Leute für mehr Freizeit gestreikt. Das war kein Streik von Arbeitsplatzbesitzern gegen Arbeitslose, sondern einer für mehr Arbeitsplätze und für mehr freie Zeit zugleich. Das ist nicht revolutionär, aber es ist eine Alternative.

Aber ich bin weniger politischer Aktivist als Theoretiker. Auf dem Feld der Theorie geht es heute um einen intellektuellen Stellungskrieg (im Sinne Gramscis) für einen offenen Marxismus, der nicht alles auf die Klassenfrage reduziert. Ich denke ein solcher Marxismus kann einiges dazu beitragen, den fetischisierten kapitalistischen Markt als dominantes Organisationsprinzip der Gesellschaft zu dekonstruieren und Alternativen dazu aufzuzeigen.

Mit Bob Jessop sprachen Frieder Dittmar, Wolfgang Hörbe und Katharina Pühl.