Der 40. Jahrestag der internationalen Studierendenrebellion von 1968 war Anlass für zahlreiche Buchveröffentlichungen,
Talkshows und Spielfilme. Aus gegebenen Anlass diskutiert Nitribitt zwei Filme, die sich mit dieser Revolte bzw. seinen
Folgen auseinandersetzen: Während La Chinoise von Jean Luc Godard (1967) die Ereignisse von 1968 antizipiert,
setzt sich The Raspberry Reich von Bruce LaBruce (2004) damit retrospektiv auseinander. Beiden Autoren ist
gemeinsam, dass sie mit radikaler Ästhetik und Ironie die militanten Strömungen der 68er-Bewegung weniger unter
moralisierenden Gesichtspunkten, sondern vor allem als theoretisch-politische Positionen und im Hinblick auf die
Alltagspraktiken analysieren – nicht zufällig wählen beide das Setting der "Kommune".
Radical & chic
Zu den Filmen:
Godards La chinoise (1967)
Fünf junge Franzosen haben sich zum Studieren maoistischer Texte in eine große Bürgerwohnung zurückgezogen deren Besitzer im
Urlaub sind. >>plot ...
La Chinoise wurde im Frühjahr 1967 in Nanterre bei Paris gedreht. Die Uraufführung fand am 3.8.1967 in Avignon statt.
(In der Bundesrepublik kam der Film Anfang 1968 in die Kinos. Der deutsche Titel lautet: La Chinoise (Die Chinesin).
Pariser Studenten proben die Revolution. Ein politischer Abenteurerfilm). Der Film ist die Projektion von Godards
widerstreitenden Reflektionen, die von den Nachrichten über den Krieg in Vietnam und der chinesischen Kulturrevolution
einerseits und andererseits von den westlichen Nachahmungsversuchen bestimmt sind: Eine Gruppe von fünf jungen Franzosen
hat sich zum Studieren maoistischer Texte in eine bourgeoise Wohnung zurückgezogen. Veronique ist Bürgertochter, studiert
Philosophie in Paris-Nanterre. Sie schwankt zwischen der Erarbeitung der "richtigen Linie" und voluntaristischem
Gewaltakt, der die entscheidende politische Polarisierung herbeiführen soll. Serge ist Maler, er will sowohl an der
künstlerischen wie an der politischen "Front" kämpfen. Henri ist Naturwissenschaftler; er distanziert sich vom Terror
und bekennt sich zur Kommunistischen Partei Frankreichs (KPF). Er wird deshalb aus der Kommune ausgeschlossen. Yvonne
kommt vom Lande; sie hat sich als Dienstmädchen und Prostituierte verkauft und lebt nun bei den Kommunarden in ähnlicher
sozialer Funktion. Doch hier macht ihr die Arbeit Spaß. Guillaume schließlich träumt von einen sozialistischen Theater
im Stil der chinesischen Kulturrevolution. Veronique führt das von der Gruppe geplante Attentat schließlich durch, begeht
aber einen großen Fehler. Ob der Terrorakt politische Folgen haben wird, bleibt in dem Film offen.
Kaderschulung mit coolen Accessoires
Godard wollte den Film zunächst mit maoistischen Aktivisten/innen drehen, doch diese trauten dem bürgerlichen
Filmemacher nicht über den Weg. Als "Ersatz" konfrontiert er dann seine Schauspieler/innen mit echten politischen
Figuren: Der schwarze Studentenführer Omar Diop hält einen "Gastvortrag" im Kommune-Theater; und Veronique wird den
Einwänden von dem Chefredakteur der Temps moderne ausgesetzt. Godard sieht den jungen Leuten bei ihren Diskussionen zu
und stellt ihnen - nicht nur skeptisch, sondern auch sympathisierend - Fragen. Die Antworten sind wahrscheinlich zum
großen Teil von den Schauspieler/innen selbst formuliert. Ein Jahr nach den Dreharbeiten wurden viele ihrer Sprüche
in der französischen Öffentlichkeit häufig rezitiert. "Warum" so fragt beispielsweise Veronique Yvonne, "wäschst du
die Teller ab?" - "Damit sie sauber sind" - "Gut, Yvonne, du hast alles verstanden." - "Also, Frankreich im Jahr
1967, das ist ein wenig wie schmutzige Teller?" - "Ja."
>>plus ...
Bruce LaBruces The Raspberry Reich (2004)
Der Film von Bruce LaBruce erzählt von einer Gruppe Terroristen in Berlin, die an einer schwulen Revolution basteln.
Die Berliner Wohngemeinschaft beruft sich dabei auf Vorbilder aus der RAF und getreu der These "Keine Revolution ohne
schwule Revolution" müssen auch die heterosexuellen Männer der Gruppe unter Anleitung von Gudrun, der dominanten
Anführerin der WG, schwulen Sex praktizieren. Die "Freizeit-Terroristen" entführen Patrick, den Sohn eines der reichsten
Bankiers in Deutschland. Nicht alles verläuft nach Plan. Im allgemeinen Chaos landet Clyde, eine der Entführer, zusammen
mit Patrick im Kofferraum des gestohlenen Autos und verliebt sich in den Entführten.
Revo geht nicht ohne Homosex, versichert Gudrun.
Der kanadische Filmemacher Bruce LaBruce, dessen Anfänge in der Punk- und Experimentalfilmszene liegen, setzt dabei auf
sein bewährtes Mittel der revolutionären Aufklärung: Pornos. Mit vollem Körpereinsatz kämpft er gegen Mainstream, Konsum
und Kapitalismus. Dabei changiert sein Film von 2004 (uraufgeführt auf der Berliner Berlinale) gekonnt zwischen einer
Parodie auf Radical Chic als auch einer Kritik an einer immer mehr verspießernden Schwulenszene, die inzwischen auch als
Lieblingszielgruppe der Stadtpolitiker/innen (als Sperrspitze der Quartiersaufwertung) und der Werbebranche
(cultural diversity) gilt.
Zwischendrin: Strawberry fields forever von den Beatles erscheint im selben Jahr wie Godards Chinesin.
Raspberry beret ist ein beatlesker Song auf Around the world, dem beatleskesten Album von Prince, das zugleich auch sein
queerstes und in gewisser Weise unafroamerikanischstes ist.
Diese beiden Songs rahmen ein kurzes Zwischenprogramm auf dem Weg von La Chinoise zu Raspberry Reich. Auch dabei:
John Zorn, FSK, Snatch (incl. Phil Collins!).