Unter Odysseus‘gleichen
© Toni Arnold, Zürich 1999
Und dann hat dieses Schwein mit Wachs
verstopft die Ohren uns, der Schelm -
noch Wochen später juckte mich der Helm!
Odysseus freilich zappelte im Flachs.
Wieso liess er sich fesseln stramm?
Wieso verstopft‘ er dein Gehör?
Die Angst, dass den Verstand verlör
im Angehör der grande Madame
verspürte er, der grosse Herr.
Deswegen war er Knecht,
der Hirsch, der Geck, der Hecht
als wir ihn führten durch das Meer.
Sirenen heissen sie, die vielen,
sie schwirren irgendwo umher.
Wer hadert, findet sie nie mehr,
wer sucht, der hört sie trunken spielen.
Nie wieder kehrt zurück der Mann,
der sie gehört, geliebt, gefühlt.
Die Welt erscheint ihm tiefgekühlt.
"Wann wieder darf ich, wann
erhören unerhörten Klang,
verführen, schwelgen, leben, sein,
befreit von Zwängen, Herren, Pein,
Sirenen‘s lieblichen Gesang?"
Der Heimat traute Farben: grau.
Der Lieben Stimme: dumpf und schwach.
Der Vögel Lieder: nur noch Krach.
So kehrt‘ ich wieder, schwer versehrt.
Kassandra hiess sie, schönste Frau.
Ich paddelte, und sie fuhr Boot.
Zu zweit gerieten wir in Not -
ich war der Hahn und wähnte mich als Pfau.
Als wir zur Insel fuhren, scheu
und jung und frisch verliebt -
die Brandung wild am Fels zerstiebt‘!
Des ersten Liebesnests im Heu
erinnerte ich mich, als wir
erhörten der Sirenen Sang
und Klang. Ich fühlt‘ es bang:
der Tod ist nah, er greift nach mir!
Das Boot ist in den Fels geknallt,
gekentert, ausgeleert ins Nass!
Ich trieb im Meer, vor Schrecken blass
Kassandra jedoch hat die Faust geballt:
"Sirene, nein, uns kriegst du nicht!
Die Männerherrschaft gibt dir Kraft,
doch Frauenmacht nimmt dir den Saft!"
schrie sie den Fluch ihr ins Gesicht.
Da wurd‘ das Meer ganz still und leis‘
klar wie ein Spiegel, glatt wie Eis
"Ich liebe Dich!" sie hauchte leis‘:
"so wünscht‘ ich mir die Hochzeitsreis‘!"
Die Jahre flogen weg wie Laub
im Herbstwind übers karge Land.
Kassandra starb. Ich grub am Strand
ein Grab. Die Brandung trank den Staub.
Und dann? Weshalb bist‘ auf den Kahn
des Odysseus gestiegen? - Ach,
ich fühlt‘ genau, ich werde schwach.
Einmal noch wollt‘ ich hör‘n - welch Wahn -
Sirenens Sang im Ozean.
Wie damals wollt ich liebend träumen.
Bevor ich muss das Felde räumen,
vertraut‘ ich lieber einem Hahn,
dass er mich führe zum Konzert.
Ein Mann so wie ich einer war
verliebt in Kunst und ganz und gar
verpflichtet hehrem Wert.
Nur leider war‘s ein Bürgerssohn,
ein widerliches Subjekt,
ein rationaler Intellekt
auf touristischer Mission.
Ich spielte danach den Soldat
zwei Jahre noch, dann war‘s genug,
Seither häng‘ ich am Branntweinkrug
und sinne über den Verrat,
den Odysseus an meinem Wunsch
Siren‘ zu hörn, betrieben hat.
Ich trink‘ und trink‘ und werd‘ nie satt.
Herr Wirt, ich wünsch noch einen Punsch!
Nur eins erzähl‘ ich noch zum Schluss
die Heldensaga vom Exzess,
den Philosoph Diogenes
betrieben hat mit zielgenauem Schiss.
In Kynisch kannte der sich aus!
Und wenn du triffst Odysseus‘gleichen,
bei Bourgeoisie, bei Hof, bei Reichen:
und sie dich laden in ihr Haus -
Iss Tags zuvor ‘ne Sau und Rettich.
Und dann, durch das Verdau‘n,
wird‘s Schweinchen weich und braun,
ziert‘s duftend ihren edlen Teppich.