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elektronisch gefesselte?

V. EIN ANTHROPOLOGE IM GERICHT

Dieser Teil meiner Arbeit soll eine Passage bilden zwischen den vorangegangenen theoretischen Kapiteln und der folgenden Empirie. Ich habe keinen deduktiven Ansatz verfolgt, mein Thema entlang der Disziplinartechnologie zu deklinieren, dies spiegelte sich vielmehr in der Auswertung des ethnographischen Materials. Losgezogen mit der Erwartung, Straftechniken der Zukunft vorzufinden, sind durch die Kartierung der Interviews die Themen der Disziplin und Normalisierung wieder so stark in den Fokus gerutscht. Ebenso wie das Konzept des Common Sense als Analytik für die »Rationalität« der normativen Erklärungsmuster von Kriminologen, Juristinnen und Sozialarbeitern. Trotzdem war es mir wichtig, die Begriffe und Konzeptionen, mit denen sich die Empirie interpretieren lässt, in einem eher traditionellen Arbeitsaufbau voranzustellen. Dieses Kapitel soll die Suche, die Annäherung und die Probleme meiner Feldforschung beschreiben. Dabei werde ich in das Feld, das ich im ersten Kapitel thematisch in seiner Entwicklung seit den 1980er Jahren beschrieben habe, im zweiten Kapitel durch den Begriff der »Assemblage«, methodisch-theoretisch zu fassen versuchte, hier anhand der konkreten beteiligten Akteure darstellen.64

V.1 Konstitution und Konstruktion des Forschungsfeldes

Zugänge zu Feld und Thema sind verschieden. Mein Thema und mein Feld liegen relativ eng beieinander. Der Weg meiner Themenfindung lässt sich beschreiben in der Reihenfolge: Interesse (für ein größeres thematisches Gebiet) - Auftauchen eines möglichen Feldes - Einkreisung eines konkreteren Themas - Rückkoppelung und Überprüfung am Feld. Mein Interesse war der Bereich von Strafvollzug und Resozialisierung bzw. die Frage, was in diesem ehemals umkämpften Feld in der unmittelbaren Gegenwart eigentlich passiert. Über intermediate Straftechniken wie Electronic Monitoring hatte ich bereits in der Literatur gelesen, stieß aber erst relativ spät durch eine Internetrecherche Ende 2002 auf den hessischen Modellversuch als ein Untersuchungsfeld quasi vor der eigenen Haustür, das mir zudem einige »Vorteile« zu bieten schien. Ich vermutete, da der Modellversuch eine gewisse Öffentlichkeit erfährt, dass die Ablehnungsschwelle gegenüber einem Forscher weniger hoch gesetzt ist als in geschlossenen (oder gar verbotenen) Bereichen von »totalen Institutionen«.65 Das heißt nicht, dass ich automatisch davon ausging, im Modellversuch offene Türen zu finden. Nur schien mir hier, durch die verschiedenen Ebenen der beteiligten Akteure, eher die Möglichkeit gegeben, auch an »Seiteneingängen« anzuklopfen zu können.

Hilfreich für eine erste Übersicht über den hessischen Modellversuches war die Diplomarbeit der Soziologin Simona Schönewolf, in der sie das Netzwerk bzw. das Zusammenwirken der beteiligten Akteursgruppen darstellt (vgl. Schönewolf 2001, 42). In einer durch die schrittweise Ausweitung auf andere hessische Landgerichtsbezirke (zurzeit Wiesbaden und Darmstadt) erweiterten Liste sind dies: Hessisches Ministerium der Justiz (als oberste Leitungsbehörde), das Max-Planck-Institut (MPI) für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg, die Firma ElmoTech als Entwickler und Bereitsteller der Technik, die Hessische Zentrale für Datenverarbeitung (Außenstelle Hünfeld) für die technische und informatische Abwicklung des Projektes, RichterInnen, StaatsanwältInnen, RechtsanwältInnen der beteiligten Gerichtsbezirke (Amts- und Landgericht), die Projektgruppe »Elektronische Fußfessel« am Amtsgericht Frankfurt (BewährungshelferInnen), die allgemeine Bewährungshilfe, welche in den anderen Bezirken die Maßnahme übernehmen muss, die dem Projekt großteils ablehnend gegenüber stehende Interessengemeinschaft hessischer Bewährungshelfer und schließlich die von Projekt und Bewährungshilfe bezeichneten »Probanden«, also die Gruppe der Überwachten.66

»In general we prefer the underdog«
In meinen ersten Überlegungen war es mir besonders wichtig, viele Interviews mit der Gruppe der Überwachten zu führen. Das lag wohl an meinem ethnographischen Reflex, der Darstellung des Modellprojektes auf den Internet-Seiten des Hessischen Justizministeriums und des Max-Planck-Institutes, in der die Überwachten als Falldarstellungen erscheinen, eine andere Repräsentation entgegenzusetzen. Doch gerade diese Strategie, dem »Othering«, der Fremdrepräsentation die »Wahrheit« der Subalternen und Marginalisierten entgegenzusetzen, kann genauso dazu führen, »dass die Konzentration auf Randseiter [...] exotisiert und damit Ausgrenzungspraktiken Vorschub leistet« (Schiffauer 1997, 164). Auch Foucault interessierte sich nicht für eine Ersetzung von »Irrtümern« in Diskursen wie der Psychiatrie gegen die neue »Wahrheit des Wahnsinns« oder der »Lügen der Justiz durch die Wahrheit des Kriminellen« (Ewald 1978, 15), sondern darum, wie Wahrheit entsteht und funktioniert. Diese Gefahr habe ich auch gespürt, wenn ich Bekannten von meinem Thema erzählte und sie sofort fragten, ob ich denn mit den Überwachten geredet habe, sich aber wenig für die anderen Akteure interessierten, was mit Sicherheit auch einer gewissen Neugier oder Erwartung von Spektakulärem geschuldet ist: »It has been said that anthropologists value studying what they like and likening what they study and, in general we prefer the underdog.« (Nader zit. n. Knecht 1996, 236). Der Umkehrschluss, den Fokus ausschließlich auf die »Etablierten« zu richten, habe ich aber auch nicht vollzogen und teile an dieser Stelle Schiffauers Kritik an einer bloßen Umstellung von »studying down« zu »studying up«.

Was ich mit Schiffauer nicht teile, ist dessen damit einhergehende Vorstellung von Macht als etwas »Diffusem« (vgl. Schiffauer 1997, 163f.). Aus den theoretischen Überlegungen sollte klar geworden sein, dass mich Macht dort interessiert, wo sie »in actu«, in Handlung und Interaktionen existiert: Es geht mir um die Darstellung des Gefüges, der Apparate oder Maschinen [assemblages], in denen Macht über Normalisierung und Konsens funktioniert. Michi Knecht kennzeichnet das Forschen in Konfliktfeldern oder Themen öffentlichen Interesses als »jenseits einer fixen Dichotomie von ›studying up‹ und ›studying down‹«, es situiere sich vielmehr in internen kulturellen Debatten und Antagonismen (vgl. Knecht 1996, 227ff). Das ist in diesem Feld auf der einen Seite die Gruppe derer, die Normen durchsetzen, und auf der anderen Seite die, welche die Normen verletzt haben oder von denen man erwartet, dass sie sich »normalisieren« - trotzdem ist es eine umstrittene Arena, in der sich wissenschaftliche Diskurse, Sinnverhandlungen durch kulturelle Steuerungsprozesse oder Sinnerklärungen aus dem Bereich des Common Sense überlagern.

Meine Entscheidung war, als Ausgangspunkt der Ethnographie das Projekt Elektronische Fußfessel, das heißt Interviews zu führen mit Akteuren (und Expertinnen), die in ihrer jeweiligen Praxis etwas mit der Fußfessel zu tun haben oder hatten. Ob sie das Artefakt am Bein befestigt haben, oder an der Ausgestaltung, Praxis und konstruktiven Weiterentwicklung des Projektes beteiligt sind, und damit mit Rabinow als Techniker (allgemeiner Ideen) bezeichnet werden können, oder von dieser Praxis insoweit überzeugt sind, dass sie als richtenden Instanz die Maßnahme angeordnet haben. Das sind grob vier verschiedene Gruppen: RichterInnen und Staatsanwaltschaft, Bewährungshilfe, Überwachte und die Forschenden des Max-Planck-Institutes. Dem folgen zwei Eingrenzungen des Feldes, nämlich zum einen, dass ich KritikerInnen des Projektes eher über Literatur einbezogen habe und zweitens, dass ich keine Interviews mit Akteuren der Anbieterindustrie (die Firma ElmoTech aus Israel) geführt habe. Dass heißt nicht, das ich diese Feld von privaten Akteuren der Sicherheitsbranche [corrections-commercial-complex], die über die harte Konfiguration ihres Produktes zusätzlich eine komplette Sicherheitsphilosophie (mit Handlungsbereitschaft) bereitstellen, unwichtig finde, aber es hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt. Zu diesem Thema verweise ich auf die ausgezeichnete Studie von Michael Lindenberg (vgl. II.3.2), in der er dem Produkt Electronic Monitoring durch mehrere Forschungs-Sites gefolgt ist.

Feldforschung als Hürdenlauf mit kleinen Umwegen
Nachdem ich Literatur und Internet-Seiten zum hessischen Modellversuch gesichtet hatte, führte ich ein Gespräch mit dem Rechtsanwalt Thomas Scherzberg, den ich kannte und von dem ich hörte, dass er sich als Vorstandsmitglied der Vereinigung Hessischer Strafverteidiger e.V. bereits kritisch mit dem elektronischen Hausarrest auseinandergesetzt hatte. Durch ihn bekam ich Materialien vom 26. Strafverteidigertag in Mainz 2002 zur Verfügung gestellt, bei dem er die Arbeitsgruppe zum Thema Elektronische Fußfessel organisierte. Er konnte mir vor allem auf der Ebene des Gerichts Tipps geben, welche Richter und Richterinnen schon mal mit der Maßnahme zu tun hatten und somit für ein Interview in Frage kamen. Eins der wichtigsten Werkzeuge wurde ab Oktober 2003 mein Festnetzanschluss und mein Mobiltelefon. War es im Bereich der Bewährungshilfe und mit den zwei ForscherInnen des MPI möglich, genaue Termine zu vereinbaren, so musste ich mit den RichterInenn (besonders bei der Haftrichterstelle) einige Verschiebungen einplanen, da sie die Termine innerhalb ihrer Arbeitspausen legten. Schlüsselpersonen meines Feldes waren die Leiterin der Projektstelle Elektronische Fußfessel in Frankfurt am Main sowie der Leiter des Projektes im Gerichtsbezirk Darmstadt, der von 2000 bis 2002 die Leitung in Frankfurt am Main innehatte. Dabei machte ich schnell die Erfahrung von der Problematik des Forschens in bürokratischen Strukturen. Sind RichterInnen unabhängig und nicht an Weisungen gebunden, unterstehen die Staatsanwaltschaft und die Bewährungshilfe bzw. das Projekt Elektronische Fußfessel einem höheren Dienstherren und das ist in der Hierarchie letztlich das Hessische Justizministerium. So verwies mich die Frankfurter Leiterin des Projektes bei einem ersten Treffen im November an das Justizministerium, um eine Genehmigung für Interviews mit den Projektmitarbeitern und »Probanden« einzuholen. Diesen Genehmigungsantrag im Namen des Instituts für Kulturanthropologie bekam ich dann, nachdem der richtige Ansprechpartner im Ministerium ausgemacht wurde, innerhalb von zehn Tagen als Erlass, der an alle zuständigen Gerichtspräsidenten zugestellt wurde, zugeschickt. Danach wandte ich mich zuerst an den Projektleiter des Gerichtsbezirks Darmstadt, mit dem ich kurz vorher ein Interview geführt hatte, und bekam daraufhin zwei Telefonnummern von ehemals Überwachten, die er vorher gefragt hatte, ob sie bereit seien, mit mir zu sprechen. Die Frankfurter Projektleiterin war zwar nun bereit, mit mir ein Interview zu führen, aber lehnte es ab, Kontakte zu Überwachten herzustellen. Ich konnte ihr telefonisch auch nicht verständlich machen, dass ich nicht die Grundregeln des Datenschutzes verletzen wollte, sie vielmehr in ihrer Rolle als Bewährungshelferin bat, ihre Klienten zu fragen, ob sie ein Interesse an einem Interview hätten. Da ich den Interviewtermin mit ihr erst im Februar 2004 bekam, intervenierte ich nicht mehr weiter. Schlüsselpersonen können Türen öffnen, aber sie auch weiter verschlossen halten, da hilft eben kein Erlass dieser Welt. Im Interview begründete sie ihre Ablehnungshaltung mit zum Teil schlechten Erfahrungen mit Medien. In einem Feldtagebucheintrag vom Dezember 2003 versuchte ich die unterschiedlichen Reaktionen der beiden Projektleitenden einzuordnen: Der Projektbeauftragte verkörperte eine pragmatisch-kooperative Haltung, die Professionalität im Umgang mit Öffentlichkeit (und Kritik) signalisierte, bei der Projektbeauftragten hatte ich wiederum das Gefühl, das sie sich in einer administrativ-abwehrenden Haltung schützend vor das ganze Projekt stellte, um es vor schädlichen Einflüssen zu bewahren. Abseits der offiziellen Wege konnte ich allerdings von meinen eigenen städtischen Netzwerken profitieren: Eine Freundin, die einige Jahre in einem Frankfurter Jugendzentrum gearbeitet hatte, hörte davon, dass eine ehemalige Besucherin die Fußfessel trägt. Sie fragte sie, ob sie bereit wäre, ein Interview mit mir zu führen. Über einen Freund von ihr aus der ehemaligen Jugendhaus-Clique ergab sich noch ein viertes Interview mit einem elektronisch Überwachten. Des Weiteren führte ich Experteninterviews mit Markus Mayer vom MPI, der die Begleitforschung in der ersten Phase des Modellprojekts führte, und mit Daniela Jessen, die die zweite Phase der hessenweiten Einführung begleitet. Um einen Blick darauf zu bekommen, wie Electronic Monitoring in einem schon länger etablierten Programm praktiziert wird und weil die Niederlande als Vorbild für den hessischen Modellversuch gelten, führte ich ein vergleichendes Interview außerhalb der bisherigen Forschungs-Sites mit dem Leiter des Amsterdamer Projekts (Elektronisch Toezicht).

Einige InterviewpartnerInnen wollten anonymisiert werden, einigen war es egal und zwei signalisierten mir, dass ihnen eine Zitierweise mit Namen lieber ist. Das schafft für mich jetzt das Problem, hier ein forschungs-ethisches Procedere zu finden. Entschieden habe ich mich dafür, außer den Experteninterviews mit dem MPI alle Interviewpartnerinnen nicht mit Namen zu nennen. Das heißt, ich werde die vier (Ex-)Überwachten mit Alias-Namen zitieren und alle anderen Beteiligten in ihrer Funktion benennen. Das sichert keine vollständige Anonymität, für Insider in der Justiz und Bewährungshilfe wird es sicherlich schnell erkennbar, wer spricht. Allerdings sehe ich für andere Lesende keinen Sinn, mit den Namen zu operieren. Wer sich von den Interviewten an dieser Stelle nicht korrekt repräsentiert findet, möge mir das entschuldigen. Ein Wirrwarr aus Namen, Alias-Namen hätte nur weitere Hierarchien geschaffen oder Ambivalenzen an unnötigen Stellen auftreten lassen. Alle interviewten Überwachten werden bei Abgabe dieser Arbeit von der Fessel befreit sein, insofern kann sich diese Arbeit nicht mehr auf ihre Situation in der Maßnahme auswirken. Zur Vereinfachung eines Überblicks der interviewten Akteure habe ich im Anhang eine »Cast list« angefügt.

V.2 Forschung in problematischen Bereichen

»Ich glaube daher, dass die Feldforschung selbst noch gar nichts garantiert und auch keine magischen Qualitäten besitzt. [...] Ist die Feldforschung nicht vom Denken begleitet und das heißt vom Befragen und das heißt vom Problematisieren und das heißt vom Staunen, dann macht es keinen Sinn, irgendwohin zu gehen und dort je nach Region entweder zu frieren oder zu schwitzen.« (Rabinow 2004, 61)
Die geschilderten Probleme im Feld weisen darauf, dass eine »Anthropology at Home« relativ selten außerhalb von Konflikten bzw. außerhalb der politischen Einstellung der Forschenden steht. Sie ist geprägt von subjektiven Voreingenommenheiten aber auch der Möglichkeit von wechselhaften Identifikationen: »we migth more profitably view each anthropologist in terms of shifting identifications amid a field of interpenetrating communities and power relations« (Narayan 1993, 671). Ihre spannende Auseinandersetzung mit der eigenen Feldforschung in dem Konfliktfeld der Lebensschutzbewegung hat Michi Knecht zu dem Schluss geführt, dass es nicht um die Frage Dialog vs. Konfrontation gehen kann. Sie wurde zum einen in ihrem Feld permanent zu ihrer Meinung befragt und zum anderen sah sie in einem rein dialogischen Verfahren keine Lösung für Interviewpartner, die man nicht mag oder zu denen man in großem Widerspruch steht (vgl. Knecht 1996, 237). Daraus folgert sie, dass es um die Verbindung Dialog und Konfrontation geht, sie sieht die Rolle der Forscherin darin immer politisch und sieht die Unmöglichkeit eines Darstellungskonsenses. Diese Spannung zu halten, halte ich auch forschungsethisch für ein extrem anspruchsvolles Vorhaben. Zumal, wenn es Interviewte zum Beispiel schaffen, Konsens bzw. kulturelle Kontrolle zu vermitteln, etwa durch geschickte Überzeugungsstrategien [»implicit persuasion«, Nader 1997, 723] damit Harmonie herstellen. Beim Interpretieren des Materials wird es dann für den Forschenden schwer, sich von dieser dem Text anhaftenden Eintracht zu lösen, wenn sie genau die Strategien und Wirkungen der Überzeugungs-Rhetorik freilegen und dadurch wieder Distanzen und Dissonanzen zu ihren »Natives« schaffen. Knecht weist auch auf die Besonderheit, dass bei öffentlich umstrittenen Themen das Feld schon vor dem »ersten face-to-face Kontakt« durch kontroverse Berichterstattung »vorstrukturiert und polarisiert« ist (Knecht 1996, 232f.).

Zwar steht die Diskussion um die Elektronische Fußfessel nicht auf derselben Ebene wie die öffentliche Auseinandersetzung um Abtreibung und Lebensschutz, aber sobald man irgendjemanden davon berichtet, wird relativ schnell eine Meinung artikuliert: das Thema polarisiert. Trotzdem ergab sich für mich in oder nach den Interviews eigentlich selten eine Situation, in der ich zu meiner Meinung gefragt wurde, wenn doch, dann mehr von den Kritikerinnen der Maßnahme. Alle, die der Maßnahme beruflich oder »ideologisch« nah standen, zeichneten sich weniger durch konfrontative Statements als durch eine »Geübtheit« im Umgang mit Öffentlichkeit aus, was sicherlich auch der Tatsache geschuldet ist, dass sie mir in ihrer Funktion als RepräsentantInnen einer Behörde, gegenübertraten. Das führte manchmal zu einer fast apolitischen Textur des Feldes. In einigen Interviews wurde ich am Anfang oder am Schluss gefragt, warum sich denn gerade ein Kulturanthropologe für dieses Thema interessiert (man erwartete eben einen Juristen oder einen Kriminologen). Vielleicht müssten öfter Akteure dieses »exotischen« Faches in Behördenfluren und Verwaltungsgängen unterwegs sein, um die dortige »natürliche« Ordnung und Faktizität zu hinterfragen und zu de-zentrieren.

Trotz des Bewusstseins, dass in einer Feldforschungsituation Identifikationen und Differenzen wechselhaft sind, kommt es immer wieder zu unerwarteten Irritationen, besonders da, wo man eine andere Meinung als die eigene vermutet (und vice versa). So sah ich mich als Kritiker des Gefängnissystems und generell an der Idee des Strafens gerade im Bereich der Justiz umgeben von »good guys (and girls)«, die eigentlich auch alle die Knastmauern überwinden würden, wenn sie denn nur könnten. Umgekehrt bezeichnete sich ein ehemaliger Überwachter, mit dem es vorher im Setting seiner Wohnung eine »relaxte« Interviewsituation gegeben hatte, hinterher selbst als »kleiner Rassist«. Ein Anderer ordnete am Schluss des Gespräches die Fußfessel als Teil einer jüdischen Strategie ein, weil die Firma ElmoTech ja schließlich aus Israel sei. Auf meinen unbeholfenen Einwand gegen dieses Weltverschwörungsmotiv, dass die Fußfessel schließlich in den USA erfunden wurde, konterte er: »Ja, aber von Juden«. Das hinterließ für mich nur Sprachlosigkeit ob der Allgegenwart antisemitischer Ressentiments und der Unmöglichkeit jedweder Gegenargumentation, die letztlich auch nur in den Fallstricken antisemitischer Konstruktionen hängen blieb. Identifikationen entlang verschiedener »Communities« führen in unserer Gegenwart zu fragmentierten Stratifikationen. In einem Kontext positionieren sich Personen emanzipativ, in einem anderen argumentieren sie reaktionär (vgl. Rose 2000, 79ff.). Stärke der Anthropologie kann es ja gerade sein, in die (Ab-)Gründe dieser Widersprüche und Ambivalenzen einzutauchen (statt die »Unappetitlichkeit der Gegenwart« nur aus sicherer Distanz top-down zu betrachten) und damit neue Erkenntnisse zu gewinnen, die eventuell beitragen, Gegengifte zu entwickeln. Allerdings brauchen die Forschenden dafür irgendeine Form ihrer eigenen Subjektkonstitution (als Konstruktion einer »dritten Person« oder ein anderes Medium »in-between«), um Distanzen nicht ganz zu verlieren, sonst kann die Folge von zuviel Dialog die bedingungslose Affirmation sein.

V.3 Methodisches: Frageleitfäden, Interviews, Auswertung

Meine Feldforschung stützt sich auf die Transkripte oder Protokolle von qualitativen Interviews. Die meisten GesprächspartnerInnen hatten kein Problem mit einer Tonbandaufzeichnung. Ansonsten habe ich versucht, das Interview so genau wie möglich zu skizzieren. Anfangs habe ich einen allgemeinen Frageleitfaden konzipiert, bei dem ich die Themen in Abschnitten ordnete und für einige komplexe Fragestellungen versuchte, Übersetzungen in Alltagssprache zu finden. Je nach InterviewpartnerIn habe ich diesen leicht verändert. Der Frageleitfaden war in vier Themenblöcke gegliedert:

  1. Ablauf der Maßnahme im Alltag (Überwachte) oder in der Arbeitspraxis (Gericht und Bewährungshilfe)
  2. Intention und (Aus-)Wirkung der Maßnahme (Überwachungssituation, Rolle der Technik, pädagogisches Konzept, intendierte Ziele des Projekts)
  3. Zum Modellversuch bzw. Pilotprojekt (Öffentlichkeitsarbeit, Umgang mit Kritik, Erfüllung der Erwartungen)
  4. Meta-Ebene: Sichtweisen, Einstellungen, Perspektiven zum bestehenden Strafsystem und zur Frage, Definition und Perspektive von Resozialisierung
Für das Experteninterview mit Marcus Mayer habe ich einen Großteil dieser Fragen übernommen, jedoch um Detail-Fragen ergänzt, die sich auf seine Forschungsberichte bezogen. Das Interview mit dem niederländischen Bewährungshelfer habe ich als Kombination aus Fragen nach der lokalen Praxis in Amsterdam mit Expertenfragen zum gesamten Projekt in den Niederlanden strukturiert. Ziel war hier für mich, eine vergleichende Perspektive auf den deutschen Modellversuch zu bekommen. Der Amsterdamer Bewährungshelfer sah sich selbst aber eher als Praktiker und konnte daher nicht alle Fragen zu Electronic Monitoring in den Niederlanden beantworten. Im Nachhinein betrachtet ist die lokale Darstellung der Maßnahme im Großraum Amsterdam aber ein ebenso guter Vergleich-Lokus zum hessischen Modell, das sich bisher weitgehend im Großraum Frankfurt abspielt: beide Verdichtungsgebiete weisen Ähnlichkeiten auf der ökonomischen Basis (Finanzdienstleistungen) wie der Internationalität ihrer EinwohnerInnen auf und außerdem, dass Betäubungsmitteldelikte (BTM) die meisten Aufträge für die Strafjustiz liefern.

Transkribiert habe ich die Interviews alle in Hochdeutsch. Dialektale Einfärbungen oder grammatische Besonderheiten wie das Verschwinden des Genitivs im Hessischen habe ich nicht berücksichtigt, führen sie doch oft nur zu Bloßstellungen der Person (die akribische Aufzeichnung von gebrochenem Deutsch hat, ist sie nicht von besonderem linguistischem Interesse, oft denselben diskriminierenden Effekt). Bestimmte Fachausdrücke aus Justiz, Kriminologie, Bewährungshilfe oder auch aus der Knast-Sprache werde ich im Text erläutern.

Für die Auswertung des Materials ordnete ich die Interviews in vier Gruppen Überwachte, Bewährungshilfe, Gericht, Begleitforschung; in dieser Reihenfolge analysierte ich die einzelnen Interviews. In einer ersten Serie kodierte ich alle auftauchenden Aussagenformationen und Ereignisse mit einem Thema oder Überbegriff und ordnete die seriellen Überschneidungen innerhalb einer Gruppe einander zu. In einer zweiten Serie erstellte ich aus diesen thematischen Kartierungen Diagramme, die auf die Hauptthemen und Nebenaspekte des Materials verwiesen. Aus beiden Serien ließ sich danach der grobe Aufbau der Empirie anhand von vier größeren Themenblöcken ableiten:

  1. der formale Aspekt vom Aufbau des Pilotprojekts und der Konzeption der Maßnahme vom Auftrag bis zur Anlegung
  2. der Alltag mit elektronischer Überwachung aus der Sicht der Überwachten
  3. der Sinn der normalisierenden Wirkung der Maßnahme aus der Sicht der Regelsetzenden (und der Wissenschaft) und Veränderungen für die Bewährungsarbeit
  4. die Einbettung der Maßnahme als Reformprojekt in ambivalente politische Diskussionen

Zur Diskursivität des Materials und eine forschungsethische Anmerkung
In das vierte empirische Kapitel wird auch bestimmte Literatur bzw. die Auswertung von Dokumenten einfließen. Doch habe ich hier erst einmal von Diskussion und nicht von Diskurs gesprochen. Die Debatte um Electronic Monitoring lässt sich zwar mit den Werkzeugen einer »Kritischen Diskursanalyse«, wie sie Siegfried Jäger vom Duisburger Institut für Sozialforschung vorschlägt, angehen. Doch für eine produktive Auseinandersetzung wäre zu beachten, dass das Thema »Elektronische Fußfessel« als ein Diskursfragment innerhalb der Regeln von größeren diskursiven Systemen funktioniert. Jäger stellt den Fluss von Diskursen in der Zeit schematisch dar durch oben liegende Spezialdiskurse der Wissenschaft, der breiten Hauptströmung der (nicht-wissenschaftlichen) Interdiskurse und den unterhalb agierenden Gegendiskursen. Berühren sich die Stränge, so weisen sie auf ein »diskursives Ereignis« (im Diskursstrang Rassismus beispielsweise die Asyldebatte oder das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen, vgl. Jäger 1993, 156; 180ff.). Das Thema Electronic Monitoring funktioniert so zum Beispiel in einem Ordnungs- und Sicherheits-Diskursstrang (als neue Maßnahme gegen Kriminalität) anders als im Spezialdiskurs der Kriminologie (Resozialisierung vs. Net-Widening), beide können aber einander befruchten oder in Widerspruch stehen.

Obwohl ich diese Arbeit insgesamt nicht als Diskursanalyse verstehe, werde ich im letzten Teil versuchen, Aussage(formationen) der interviewten Akteure innerhalb der Kontexte kriminologischer und politischer Diskurse einzuordnen. Zu den Interviews werde ich die Auswertung von Materialien der Begleitforschung und der Projektselbstdarstellungen, die ich auch als Material der Akteure begreife, hinzuziehen. Ein Wermutstropfen bleibt: Bei der Auswertung von rein textuellem Forschungsmaterial kann es nach Stefan Beck zum Verlust der »Zuhandenheit« im diskursiven System kommen, was nichts anderes meint, als dass die Repräsentation von Praxis auf der sprachlichen Ebene eine Entfremdung erfährt und somit auch zu »Übersetzungsfehlern« führen kann (Beck 1997, 346). Im Feldbereich Alltag und dem Umgang mit Technik kann ich dies nicht ausschließen, interpretieren kann ich dort nur dessen sprachliche Verhandlung.

Umgekehrt habe ich mich aber auch aus forschungsethischen Gründen gegen eine zu detaillierte Darstellung dieses Bereichs der Überwachten entschieden. Zwar habe ich mittlerweile ein Gespür entwickelt für die, wenn auch bescheidenen Taktiken und Listen, sich den Kontrollen (wenn auch nur für Mikro-Sequenzen) zu entziehen, aber ich verstehe mich immer noch als Anthropologe und nicht als Kriminalist. Am meisten interessiert sich für solche Art ethnographischer Geschwätzigkeit die Anbieterindustrie zur Perfektionierung ihrer Produkte. Für die Überwachten, aber ebenso für die Richter oder die Bewährungshilfe könnte eine Konsequenz sein, dass von ihnen eine Schließung der (allzu menschlichen) Kontroll-Lücken und Spielräume verlangt wird.

Aber nicht zu viel der Andeutungen. Die Werkzeugkisten sind gefüllt, die Arbeitsschritte dargelegt, das Feld wurde in dieser Passage schon gemächlich beschritten und eine Übersicht der interviewten Akteure bereitgestellt. Nun, lass dich entführen, lesendes Subjekt, in die verborgene Welt postmoderner Fesselpraktiken...

 

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64 Eine Liste der Akteure, mit denen ich Interviews führte, findet sich im Anhang dieser Arbeit.

65 In thematischer Nähe standen für mich auch Recherchen zur Situation im »Reform-Gefängnis« Darmstadt-Weiterstadt, dass in den Zeiten seines Baus heftig diskutiert wurde, aber nach seiner verspäteten Eröffnung - wegen eines Sprengstoffanschlag der RAF - kaum noch wahrgenommen wird oder auch der erste Bau eines teil-privatisierten Gefängnisses in Hünfeld bei Fulda. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass Genehmigungsprozeduren für ein Interview (mit anderen Bedingungen als ein normaler Besuch) im Strafvollzug sich über Monate hinziehen können, um dann immer noch abgelehnt zu werden. Die einzigen Nebentüren lassen sich hier manchmal über Anstaltspfarrer oder Sozialarbeiter öffnen.

66 Die Bewährungshilfe bezeichnet ihre AdressatInnen generell als Probanden, »vom Lateinischen probare, sich versuchen«, wie es mir ein Interviewpartner erklärte. Durch den Modellcharakter und in den Schriften der Begleitforschung verstärkt sich bei der Benutzung dieses Begriffes aber noch mehr der Charakter eines Versuchsteilnehmers, was sehr merkwürdig erscheint, denn die Betroffenen haben ja ein anderes Anliegen. Insofern werde ich diesen objektivierenden Begriff, außer in Literatur- und Interview-Zitaten durch »(elektronisch) Überwachte« austauschen und schließe mich der Kritik von Christoph Maeder an: »Wer Sprache und Zuschreibung ernstnimmt als Sozialwissenschaftler, kann sich diesen potentiell abwertenden und entwürdigenden Etikettierungsstereotypen problemlos entziehen. [...] Je länger man insbesondere sogenannt kriminologische Literatur liest, desto stärker wird einem bewusst, wie wenig überlegt und wenig distanziert sich viele Soziologinnen und Soziologen der Sprachmacht der Psychiatrie unterordnen, indem sie immer wieder dieses unsägliche Spracharsenal von Vpn, Probanden usw. verwenden« (Maeder 1995, 215).

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